Kurzgeschichten

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Marcus Haas

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Beuteschema

Als der Wagen mitten auf der Passstraße liegen blieb, machte ich mir eigentlich keine großen Sorgen, es würde halt ein langer Spaziergang ins nächste Dorf werden. Aber die Nacht war klar und die Straße im Licht des Halbmondes und der Sterne gut zu sehen.

Ich spazierte also munter drauflos und versuchte meinen Rhythmus zu finden, wenn ich die nächsten drei vier Stunden laufen musste, war das unerlässlich. Ich lauschte den Waldtieren, Vögeln und Zikaden es war ein wenig kühl aber nicht unangenehm, eigentlich gerade richtig für die Wanderung, die vor mir lag.

Nach etwa einer halben Stunde hörte ich das erste Mal ein Geräusch im Wald neben mir, ich lauschte einen Augenblick, konnte aber nichts weiter hören. Ich hielt es für ein harmloses Tier, das sich wahrscheinlich vor mir erschreckt hatte. Das einzig Richtige daran war, dass es sich um ein Tier handelte.

Die folgende halbe Stunde hörte ich keine ungewöhnlichen Geräusche mehr, aber ich wurde das Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. Ich maß dem allerdings nicht viel Bedeutung zu. Sich in der Nacht im Wald etwas unwohl zu fühlen hielt ich schlicht für ein Erbe unserer Vorfahren. Es fiel mir trotzdem nicht leicht, den Drang laut zu pfeifen zu unterdrücken.

Plötzlich stand das Tier mitten vor mir auf der Straße, im schwachen Licht der Nacht hatte ich erst sehr spät gesehen. Es sah nach einer großen Katze aus, ein Berglöwe um genau zu sein. Ich dachte die gäbe es hier in der Gegend gar nicht. Das war natürlich nicht mein erster Gedanke, der Erste war so schnell wie möglich wegzulaufen. Es nicht zu tun hat wahrscheinlich mein Leben gerettet. Ich erstarrte, als ich das Tier sah, das mich Zähne fletschend musterte. Ich musste in sein Territorium eingedrungen sein.

Aber Menschen gehören nicht in das Beuteschema von Berglöwen, wenn mein Biologielehrer damals recht gehabt hat, sollte ich eigentlich nicht in Gefahr sein. Er hatte aber auch behauptet wilde Tiere würden vor dem Menschen fliehen.

Wir hatten hier so etwas wie eine Pattsituation, ich traute mich nicht auch nur einen Muskel zu rühren und der Berglöwe wartete darauf, dass ich etwas machen würde, dass ihn zum Handeln zwingen musste. Ich konnte nur hoffen, dass der Raubkatze zuerst langweilig werden würde und sie sich wieder ins Unterholz verzog.

Bedauerlicherweise hatte ich hier ein sehr ausdauerndes Exemplar vor mir. Nach vielleicht einer Viertelstunde machte ich ganz langsam einen Schritt auf das Tier zu, ich wollte ihm auf keinen Fall den Rücken zuwenden. Er fauchte und machte einen Schritt rückwärts.

Ich wusste natürlich nicht, ob es ein Männchen oder Weibchen war, das spiele im Moment auch nur eine untergeordnete Rolle. Ich vermied es so gut es ging das Tier direkt anzusehen, um es nicht noch weiter zu reizen, es sollte sich von mir nicht bedroht fühlen, aber ich durfte auch keine Schwäche oder Angst zeigen. Eine schwierige Gratwanderung, die sich über die nächsten Minuten hinzog.

Hin und wieder wagte ich einen Schritt auf einem weiten Bogen um den Berglöwen herum, wir konnten ja nicht die ganze Nacht hier herumstehen, zumal es auf dieser abseits gelegenen Straße wenig wahrscheinlich war, dass plötzlich ein anderes Fahrzeug auftauchen und die Katze verscheuchen würde.

Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis ich den Berglöwen halb umrundet hatte, ich konnte nicht die ganze Nacht hier stehen bleiben und Warten, bis der Raubkatze irgendwas Dummes einfallen würde.

Plötzlich stolperte ich, da war ein Schlagloch in der Straße, das ich in der Dunkelheit nicht bemerkt hatte. Ich konnte mein Gleichgewicht gerade noch einmal fangen, aber der Katze war mein Missgeschick nicht entgangen. Sie stand jetzt zum Sprung bereit und fauchte tief und bedrohlich. Wenn ich gestürzt wäre, wär Sie mit Sicherheit gesprungen. Aber ich fiel nicht und der Berglöwe hielt sich zurück, wir hielten weiter den Status quo und ich könnte nicht sagen, wer von uns mehr Angst vor den anderen hatte.

Aber jetzt traute ich mich wirklich nicht mehr weiter, ich wagte kaum noch zu atmen, um das Tier nicht zu reizen. So belauerten wir uns noch mindestens eine halbe Stunde, die mir in der kühler werdenden Nacht wie eine Ewigkeit vorkam. Aber auf einmal sprang der Berglöwe in den Wald zurück und verschwand, ich hörte ihn noch einige Minuten zu, wie er sich entfernte, bevor ich endlich wieder tief durchatmen konnte. So nah war ich noch keinem wilden Tier gekommen. Ich hatte aber auch nicht das Bedürfnis diese Erfahrung zu wiederholen.