Kurzgeschichten

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Marcus Haas

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Cyberhunter

Ich muss schon mit dem falschen Bein aufgestanden sein, anders war meine schlechte Laune an diesem Tag überhaupt nicht zu erklären.

„Was?“ Schrie ich, ein wenig zu laut, etwas zu schrill. Ich hatte einen fürchterlichen Kater, aber vielleicht war das auch nur diese verdammte Grippe, die in diesen Wochen die Stadt heimsuchte.

„Ein Spooky,“ wiederholte Gunnar langsam, er kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich mit dieser Laune zu nichts zu gebrauchen war. „Ich mach‘ erst mal Kaffee. Dann reden wir.“

Ich schleppte mich in mein Büro, es würde ein einer dieser fürchterlichen Tage werden, ich wusste es. Missmutig knallte ich meine Füße auf die Flüssigkristallplatte meines Schreibtisches. „Neues?“

„Sie haben zwei Nachrichten.“ Antwortete der Schreibtisch, mit dieser Stimme, die ich an meinem guten Tagen angenehm fand, und an solchen wie heute nicht ausstehen konnte, weil sie so verflucht freundlich klang.

„Vorlesen!“

Ich hatte wirklich keine Lust, meine Augen so früh am Morgen schon mit dem Entziffern von Schriftzeichen zu überanstrengen.

„Eine Nachricht von ihrer Exfrau, ...“

„Überspringen.“ Es konnte ja nur um die Unterhaltszahlungen gehen. Ich zahl ja, aber erst muss ich mal was verdienen. Das mit dem Verdienen war in diesen Tagen gar nicht so leicht als Cyberhunter, so was wie ein Privatdetektiv im Internet3. Ich war derjenige, den man rief, wenn die verdammten Roboter nicht mehr weiterwussten, man konnte gerade so davon leben. Bah, jeder Idiot hätte diesen Job machen können ein bisschen Reaktionsgeschwindigkeit, ein winziges bisschen Hirn, dann klappte das schon.

„Zweite Nachricht von Maria Karan.“

„Kennichnich.“ Stöhnte ich. „Zusammenfassung.“

„Sie bittet um einen Termin, wegen einer Nachforschung nach ihrem Freund.“

„Weitere Infos?“

„Negativ, soll ich Informationen einholen?“

„Lasses. Verpass der Frau ´nen Termin.“

„Ist eingetragen.“

Wundervoll, ein Job. Jetzt könnte Gunnar aber langsam mal mit dem Kaffe kommen, war da nicht noch irgendwas. Oh verdammt, mein Bregen gleicht auch schon bald diesem Internet, ständig werden die wichtigsten Daten irgendwo ins Nirwana gejagt. Ein Spooky nichwar? Die Polizei war eine kleine aber fast regelmäßige Einnahmequelle, wenn sie wieder mal einen dieser Datengeister in den Datennetzen entdeckten. Das waren Idioten, die sich ganz in das Netz versenken konnten. Brainlink oder irgendso´n Mist, ich hab´ mit diesen Implantaten nichts am Hut, die machen nur die grauen Zellen schwammig. Aber die Spookies lassen sich das Zeug in die Schädel bohren und dann hakts halt mal aus. Wenn dann wieder so´n Kerl verlustig geht und nicht mehr weiß was oder wer er ist dann heuert man Leute wie mich an, um die einzelnen Stücke der Persönlichkeit in den lichtjahrlangen Glasfaserkabeln rund um den Globus wieder zusammenzuklauben.

„Hier, dein Kaffee. Und nimm deine Käsefüße vom Tisch. Hast du eigentlich ´ne Ahnung, was so ein LCD kostet.“

Kann ja wohl nich´ so viel sein oder, aber ich hievte meine Füße trotzdem runter auf den alten Teppich, es wurde Zeit, dass ich mich selbstständig machte, ich konnte doch nicht ewig für Gunnar arbeiten. Und dann auf der anderen Seite, bei Gunnar hatte ich ein geringes, aber wenigstens ein Auskommen. Außerdem war ich sein bestes Pferd im Stall, die anderen vier Hunter waren Stümper, ich hätte sie längst durch KI-Programme ersetzt.

„Was is´ mit dem Spooky?“

Ich spielte auf dem Touchscreen des Schreibtisches und malte gelangweilt Strichmännchen auf die Arbeitsfläche, verschob meine Aktenordner in den Papierkorb, der die Daten prompt wieder ausspuckte, weil sie irgend so‘n Attribut besaßen, das Löschungen verhinderte. Ich war sicher, dass ich das Betriebssystem trotzdem eines Tages überlisten würde.

„Interessanter Fall. Municscan hat im Stadtnetz einen Spooky gefunden, du sollst Ursprung und Eigentümer finden.“

Wenn’s weiter nichts war. Ein verwirrter Geist irgendwo in der Gegend von München. Ich war ja der Meinung, dass man diese Spookys einfach löschen sollte, dem sich in epileptischen Krämpfen windenden Besitzer würde das wahrscheinlich auch nicht mehr allzu viel ausmachen, wenn ihm ein Stückchen seiner verkorksten Persönlichkeit fehlte. Aber irgendso´n irrer Politiker war auf den Trichter gekommen, dass Persönlichkeitsstrukturen im Netz immer noch Privateigentum des Besitzers waren und diesem zurückgegeben werden mussten, wenn sie selbst nicht nach Hause fanden. Und damit durfte ich mir jetzt den Rest des Tages um die Ohren hauen.

„Hab keine Wahl was.“

„Nein, wenn du mal wieder eine Unterhaltsrate zahlen willst, dann nicht.“

„Hey, liest du etwa meine Mails?“

„Wenn du Geheimnisse hast, dann benutz die Briefpost.“ Grinste Gunnar nur und trollte sich aus meinem Büro, ich hätte ihn erwürgen können. Nur weil er mein Arbeitgeber war, nahm er sich das raus. Irgendwann würde ich mich doch mal selbstständig machen müssen, ich brauchte nur noch den passenden Anlass. Na ja und etwas mehr Eigeninitiative.

„Die Daten zu diesem Spooky.“

„Letzter Ping: München, Hofbräuhaus. Dann: Contact Lost.“

„Virtueller Säufer!“ Das konnte ja heiter werden. Ich kramte Brille und Datenhandschuhe aus der untersten Schublade, dann schnallte ich mich an, einige der junge Spunde belächelten mich, wegen dieser Vorsichtsmaßnahme, aber die hatte auch noch nie gesehen, wie jemand nach einer rasanten Fahrt ohnmächtig auf die Tischplatte geknallt war. Dann setzte ich die Brille auf und taucht ein, in die Welt der Datenpakete. Eine manchmal beängstigend real wirkende Repräsentation des Netzes, mit all den toten Links und abgestürzten Servern und Sackgassen auf irgendwelchen Remailern. Es war kein Wunder, dass man hier drin schon mal verloren gehen konnte.

Ich sandte mein Avatar nach München, der leichteste Teil der Arbeit, ich durfte die SSL-Standleitungen der Polizei benutzen, manchmal war das eine Abkürzung, manchmal waren die aber auch von den ganzen Hackern so überlastet. Das war, wie ein Stau auf der Landstraße. Ich schüttelte den Kopf, aber die Kopfschmerzen ließen davon nicht nach, nur die Texturen begannen zu wackeln, dass mir fast schwindelig wurde. Ich ließ mir die Protokolle des Bierservers zeigen. Millionen von Zugriffen in den letzten Stunden. Gott, hatten die Kerle nichts Besseres zu tun. Aber ich wußte, wonach ich suchen musste. Die Zugriffscharakteristika einen Spooky unterscheiden sich stark von denen der Normalbegabten, manchmal hatte ich allerdings den Eindruck, dass sich die Muster in den letzten Jahren immer mehr anglichen. Ich schüttelte einen Dämon ab, der meine Emailadresse extrahieren wollte. So weit kommt das noch, das mir jeder dahergelaufene Bot seinen Spam schickt.

Dann fand mein Roboter das chaotische Muster des Spooky. Dann wollen wir doch mal sehen, was dich treibt. Ich streckte meine virtuellen Tentakel in alle Richtungen, die dem Muster des Spooky entsprachen. Ich war sicher sein Muster würde auch einem benachbarten Server wieder auftauchen. Diese verirrten Persönlichkeiten machten selten große Sprünge, aber dafür waren sie schnell, wild sprangen sie von einem Mainframe zum nächsten und konnte in Minuten um die ganze Welt surfen.

Da haben wir dich doch, irgendwo in ´nem kleinen Kaff bei Wien war mein Auftrag wieder aufgetaucht, und auch schon ´ne ganze Weile wieder weg. Verdammt, wenn nicht jeder Almöhi einen Internetserver auf seiner Alm stehen haben würde, wär meine Arbeit viel leichter. Eine Webcam zeigte mir unaufgefordert, wie Rosi es sich in der automatischen Melkmaschine bequem machte, was für ein Euter, das musste doch weh tun. Aber jetzt hatte ich keine Zeit für diesen Mist, ich musste meine Brötchen verdienen. Meine Robottentakel fanden einen Link nach Italien, ich verstand kein Wort mehr, aber das war nicht wichtig, ich brauchte nicht die Information, nur das Muster das Spookys, und wenn das Ding nach Japan oder China surfte, das machte keinen Unterschied. Doch, einen Unterschied machte es, für mich würde der Job jetzt noch mal um eine Größenordnung langweiliger werden. Außerdem musste ich mich beeilen, wenn ich die Spur nicht verlieren wollte. Mein Freund hier war ungewöhnlich schnell, höchstens ein paar Millisekunden auf jedem Server, so wie der raste, konnte wirklich nicht mehr viel von seinem mickrigen Schädelinhalt übrig sein. Wenn man dann noch die Datenverluste berücksichtigte, die bei diesem Tempo auftraten, ich war mir sicher, dass sich das Problem über kurz oder lang selbst erledigen würde.

Ich musste das Paket finden, bevor es sich aufgelöst hatte, sonst konnte ich auch das Honorar für diesen Job abschreiben. Wenn ich den Spooky nicht zu seinem Eigentümer zurückbrachte, dann würde man in einigen Jahren wieder eine dieser Leichen finden, die niemals von einem Menschen vermisst worden waren. Er war doch immer so´n lieber ruhiger Nachbar gewesen, hat nur etwas streng gerochen. Irgendwie so gingen dann die Kommentare der Nachbarn. Ich hatte das schon in den News gesehen, wenn ich mal wieder zu geschafft war, um den Befehl zum Weiterschalten zu geben. Mir war das egal, aber Gunnar würde mir die Hölle heiß machen, wenn ich das hier vergeigte. Gunnar hatte irgendwie so ´ne soziale Ader, und ich verdiente meine Milch damit.

Ich klapperte die nächsten Server ab, einen nach dem anderen, immer neue Spuren lieferten meine Hilfsprogramme. Ich übersprang einige Zwischenschritte und kam dem amoklaufenden Datenpaket langsam näher, Sekunden waren immer noch Welten in den Netzen aber es wurden weniger. ETA ´ne Minute oder so, das konnte doch nicht so schwer sein.

Allmählich lernten meine digitalen Helferlein dazu, immer schneller konnte ich die Spur verfolgen, ich holte langsam auf. Plötzlich war irgend so ein Löschalgorithmus hinter mir her. Verdammt, verdammt, verdammt, die Biester konnten einem den ganzen Tag verderben. Ich hackte flüchtig ein paar Makros in meine virtuelle Konsole und hoffte, dass der Interpreter die Rechtschreibfehler korrigieren würde. Ich machte eine Kopie von mir, bzw. meinem Avatar. Kein Grund wegen dieser Lappalie die Verfolgung abzubrechen, ich konnte den Spooky auch einen Augenblick ohne mich verfolgen. Dann nahm ich den Deleter auseinander. Zwei kleine Codepakete, die seinen Kernel knackten und eines, der direkt den Löschalgorithmus anging. Das Programm war im Eimer, noch bevor es „limitierte Prozessorzeit“ sagen konnte. Ich vereinigte meine Avatare wieder. Ein paar Nanosekunden war ich zurückgefallen, nichts Bewegendes. Ich kopierte mir das Löschprogramm. Wenn das hier fertig war, musste ich mir mal ansehen, wer da meine Arbeit sabotieren wollte.

Endlich kam das entlaufene Programm in meine künstliche Sichtweite, ich bereitete die Sandbox vor, wenn ich den Spooky da drin hatte, konnte er sich erst mal austoben. Wir waren endlich im selben Server im selben RAM, reflexartig spiegelte ich die Speicheradresse in meine Sandbox und kopierte uns beide zurück in mein Büro. Das Ding tobte ganz schon rum, aber aus dem abgeschlossenen Speicherbereich der Sandkiste konnte es nicht ausbrechen, es würde sich schon beruhigen, und wenn sich der genetische Code nicht mehr alle Nanosekunde umschrieb, konnte ich mich daran machen, Daten über den Besitzer rauszusuchen.

Ich warf die Brille und die Handschuhe in die Ecke und beugte mich über die Schreibtischplatte. Die Statistiken der Aktivität in meiner Sandbox rauschten nur so vorbei, komisch dieser verfluchte Spooky wollte sich nicht beruhigen, obwohl es nichts mehr gab, was er anrichten konnte. Sah so aus, als müsste ich den Code wirklich schlafen legen, sonst würde er sich noch selbst verstümmeln. „Analyse.“ Befahl ich kurz, was hatte das bloß vor.

„Daten ergeben systematische Analyse der Sandbox. Interpretation: Spooky sucht Schwachstellen.“

Das war ja mal was Neues. „Einfrieren.“

Sofort hörten die Aktivitäten auf, ich hatte die der Box zur Verfügung stehenden Prozessortakte auf 0 heruntergedreht, so ließen sich die Biester viel besser unter Kontrolle halten. Ich zog eine Kopie auf eine Speicherkarte und steckte die Karte in meine Hemdtasche. Keine Ahnung, warum ich das tat, normalerweise war das nicht notwendig. Aber ich hatte ein übles Gefühl bei diesem Persönlichkeitsmuster, normalerweise versuchten diese Dinger nicht, meine virtuellen Gefängnisse auseinander zu nehmen. Das war illegal, so was wie Diebstahl geistigen Eigentums, aber ich wollte diesen Code unbedingt einem Freund zeigen.

Schließlich fand ich Zeit mir den Programmcode des Datenspuks näher anzusehen, nur einige zigtausend polymorphe Zeilen, die sich chaotisch und evolutiv weiterentwickelten. Aber es musste einen Kern geben, den gab es immer. Ich machte einen Abgleich der Speicherprotokolle und fand ein paar Zeilen, die sich während einigen millionen Zyklen kaum geändert hatten, hier könnte etwas stecken, was ich suchte. Eine Absenderadresse, der Name des Ursprungsservers oder wenigstens eine Paketnummer, die ich dann in den Serverprotokollen zurückverfolgen konnte.

Ich fand diese verdammte Paketnummer tatsächlich, die müsste jetzt eigentlich, ohne größere Probleme zurückzuverfolgen sein. Je länger diese verfluchten Programme im Netz herumtobten, desto mehr Datenmüll bauten sie in ihren Code ein. Wenn ich mich da auf meine Erfahrung verlassen konnte, dann musste dieser Spooky schon ein paar Tage auf freiem Fuß sein. Damit sanken die Chancen in noch lebendig zu finden ganz beträchtlich. Uh, Gunnar würde ganz schön Sauer sein, wenn ich diesen Job vergeigte.

Meine Searchbots fanden den Server, in den das Datenpaket zuerst eingespeist wurde in wenigen Sekunden. Der Rechner musste ganz in der Nähe sein, vielleicht sogar im selben Land. Es dauert nicht lange, bis die Adresse auf meinem Monitor aufflackerte. Hier in der Stadt? Wow, das hätte ich nicht erwartet. Ich mailte die Adresse sofort weiter zur Polizei. Damit war meine Arbeit eigentlich erledigt, also legte ich meine Füße wieder auf den Tisch und lehnte mich zurück. Meine Bezahlung müsste jeden Augenblick auf meinem Konto eingehen.

Aber diesmal war die Sache damit nicht erledigt, klar mein Geld kam an, aber eine Viertelstunde später erhielt ich dann diesen Anruf.

„Können sie kommen?“

Ich zuckte mit den Schultern. Ich Schaute der Polizistin in die Augen, sie stand in einer heruntergekommenen Hütte, von der ich nur die vergilbte Decke sehen konnte, und eine Lampe, in der zwei zerschlagene Glühbirnen steckten. „Was‘n los?“ 

„Wir haben ihn gefunden!“

„Ja, das dachte ich mir.“ Antwortete ich unwirsch, musste doch noch was anderes geben, wenn die mich anriefen.

„Das ist nichts fürs Videofon. Kommen sie her!“

Das muss ein Befehl gewesen sein. Ich hasse Befehle, aber neugierig bin ich ja auch. Verflucht, das muss so’n griechisches Dilemma sein, wie kann ich dahingehen und mir das Wrack ansehen, ohne einem Befehl folgen zu müssen.

Ich erreichte das Haus mit der von mir bestimmten Adresse eine halbe Stunde später. Es sah genau so aus, wie ich es mir vorgestellt hätte, einer dieser Wohnbunker mit vielen hundert Parteien, die es inzwischen aufgeben hatten, auch nur ihre engsten Nachbarn zu beachten. Leben und sterben in einem dieser autonomen Hochhausslums war so ziemlich die übelste Daseinsform, die ich mir denken konnte.

Ein Polizist erwartete mich an der Schwelle zu diesem Habitathorror, und ein übler Geruch empfing mich schon bevor ich den ersten Schritt in die dunkle Höhle des Flurs getan hatte. Wenn die Wohnung nicht im siebten Geschoss gelegen hätte, wäre ich lieber die Treppe hinaufgeklettert aber die Chancen waren gut, dass auch das nicht angenehmer gewesen wäre. Vermutlich hätte ich noch ´ne Alkoholleiche gefunden, die da langsam vermoderte, das würde zumindest einen Teil des üblen Geruchs erklären.

Der Flur, den wir endlich betraten, nachdem die Luft im Fahrstuhl zum x-ten mal verbraucht worden war, war von flackernden Neonröhren in kaltes Licht getaucht. Vor der Tür der gesuchten Wohnung hatten zwei weitere Polizisten Stellung bezogen. Ich an ihrer Stelle hätte auf ´nem Satz Gasmasken bestanden, aber die Polizeigewerkschaft war wohl auch nicht mehr das, was sie einmal war.

Ich schreckte zurück, als ich die Wohnung betrat, unglaublich aber der Gestank ließ meine Nüstern schmerzen.

„Wer ist hier gestorben?“ Wandte ich mich an die Frau in zivil, sie hatte mich auch angerufen. Eine Karte an ihrem Revers wies sie als Oberinspektor Hellen Chase aus.

„Das versuchen wir, herauszufinden!“ Antwortete sie knapp und machte eine saloppe Armbewegung in Richtung Wohnzimmer, oder was immer als solches vom Architekten angedacht worden war. „Kotzen Sie mir aber nicht hierhin.“

„Macht keinen großen Unterschied oder?“ Ich schob mich durch den versifften Flur und duckte mich unter der kaputten Lampe hinweg.

„Nee, aber die Spurensicherung hat dann mehr zu tun.“

Was auf den ersten Blick wie Sperrmüll aussah, sollte wahrscheinlich die Garderobe sein, die Tür ins Wohnzimmer stand weit offen und man konnte eine Couch sehen, die von einer vergilbten Plastikfolie geschützt wurde. Am Boden lagen Zeitungen und Bierdosen verklebt von ... ich wollte es gar nicht so genau wissen. Ich versuchte unauffällig durch den Mund zu atmen, um den Gestank nicht ertragen zu müssen, aber es schien nichts zu nutzen. Eine alte Pizza erklärte vieles von dem Geruch, aber nicht alles. Dann folgte ich Chase ins Wohnzimmer und konnte wirklich nur mit Mühe dem Brechreiz widerstehen. So schlecht war mir nach meinen übelsten Saufgelagen noch nicht.

Ein Mann lag da auf einem Liegesessel, die Stoppeln im Gesicht zeigten, dass er das schon etwas länger tat. Völlig reglos hing der Mann in dem Sessel. Alt war er nicht, dreißig plus ein wenig, aber völlig verwahrlost. Sanitäre Anlagen, geschweige denn eine Wäscherei, hatte diese Person schon längere Zeit nicht mehr aufgesucht, das speckige T-Shirt und die dreckige Kordhose legten deutlich Zeugnis davon ab.

Ich hielt mir die Hand vor den Mund, um mich nicht übergeben zu müssen, als ich Chase folgte, die langsam um den Körper herumging, wenn er tot wäre, hätten sie mich nicht holen brauchen.

„Unsere Sanitäter kommen hiermit nicht klar!“ Erklärte Sie und hielt ein paar Kabel hoch, erst jetzt bemerkte ich, dass diese aus dem kahl geschorenen Schädel wuchsen. Ich schreckte zurück, unter den Augenliedern waren die REM-Bewegungen zu erkennen. Er lebte, und schien zu träumen oder so was.

„Was ist hier passiert?“ Wollte ich wissen und suchte das andere Ende der Kabel, irgendwo musste schließlich der verdammte Computer stehen.

„Das können wir noch nicht sagen, vermutlich ein Junkie, der sich selbst in diese Lage gebracht hat. Bisher konnten wir nicht feststellen, ob hier ein Verbrechen vorliegt oder nicht.“

Ich fand den Computer in einer Ecke neben dem Wohnzimmerschrank unter einem Stapel alter Fernsehzeitungen. Über den kleinen Monitor flackerten die Statuszeilen, zu schnell, um etwas richtig lesen zu können. Ich fummelte mein Headset aus der Tasche und suchte einen Connector, ja an der Tastatur war noch ein Port frei. Er hatte zweifellos nicht dieselbe Leistung wie diese Implantatkabel, aber ich wollte auch nur ein Bild und nicht gleich eine Fullbody-Simulation.

„Und?“

„Sekunde Hellen.“

„Oberinspektor Chase, bitte!“

„Wie du willst. Ich suche einen Zugang.“ Was für ein Chaos, dutzende Prozesse die irgendwann einmal vergessen worden waren, ein heilloses Chaos an Ordnern und Verzeichnissen. Das hier war entweder der Rechner eines blutigen Anfängers oder eines Genies. Ich suchte die komplexeren Programme, es blieb etwa ein halbes Dutzend übrig, zwei hatten eine Verbindung ins Netz, da war ich richtig.

„Ich hab was gefunden. Versuch einen passiven Zugang. Sie können sehen, was ich sehe, ich geb` das Signal auf den Monitor, Hellen.“

Aus den Augenwinkeln beobachtete ich an meiner Brille vorbei wie sie mir einen grimmigen Blick zuwarf aber dann wandte sie sich dem Monitor zu. Sie blieb nicht lange stehen, schon bald ging sie in die Knie, um besser sehen zu können. Zwei Kollegen von ihr gesellten sich dazu. „Das ging aber schnell.“

„Ruhe!“ Befahl sie. „Was sehen wir da?“ Fragte sie mich nach einem Augenblick.

„Wohow.“ Murmelte ich. „Space2!“ Ich kannte diesen Dungeon er war schon ´ne ganze Weile online aber, von diesen Nebenwirkungen hatte ich noch nicht gehört. In der künstlichen Welt des Computers tummelten sich einige Avatare, die miteinander interagierten, aber von unserem Typen hier konnte ich keine Spur erkennen. „Ich vermute unser Freund hier hat einen Link ins Internet genommen und sich dabei verloren.“

„Können Sie ihn zurückholen?“

„Ich versuch´s.“ Ich lud das Persönlichkeitsengramm aus meinem Büro und kappte vorsichtig die virtuellen Verbindungen, die ich dann behutsam mit der eingefrorenen Sandbox wieder verknüpfte. Viel mehr konnte ich eigentlich nicht tun. Wenn die beiden zusammengehörten, dann mussten sie jetzt von allein wieder zueinander finden. Langsam fuhr ich die Prozessorlast wieder in die Höhe.

„Aaaaarh!“ Schrie der Mann, es schien zu klappen. Ich trennte die letzten Verbindungen zu Außenwelt und transferierte uns zurück in seinen Schädel, hier musste das Implantat den Rest erledigen, meine Aufgabe war damit beendet.

„Kabel raus!“ Befahl ich schnell und zog mir die Brille vom Kopf. Die Augen des Mannes waren starr aufgerissen und schienen irgendetwas zu sehen, das sich jenseits der Zimmerdecke befand. Einer der Sanitäter zog das Kabel aus dem Rechner, dann half er seinem Kollegen, den Patienten unsanft auf die Trage zu werfen.

„Geschafft?“ 

„Klar Hellen. Kinderspiel. Ein paar Tage auf der Intensivstation und ein Bad, dann ist der wie neu.“

Sie nickte. „Ihr Wort in Gottes Ohr.“ 

„Ich muss hier raus.“ Ich drängelte mich an den beiden Streifenpolizisten vorbei, ich konnte das nicht länger ertragen. „Ich begleite Sie. Ihr beide wartet auf die Spurensicherung.“

Die beiden Polizisten, die wieder ihre Stellung neben der Tür einnahmen, konnten einem wirklich leid tun. Ich jedenfalls war froh die versmogte Luft vor dem Bunker in meine Lungen saugen zu dürfen. Ich schaute dem Krankenwagen nach, der mit Blaulicht und Höchstgeschwindigkeit davonraste.

„Also?“ Wandte sich die Inspektorin an mich. „Was denken Sie?“

„Hä?“

„Ich hab ´n komisches Gefühl bei der Sache. Also war das ein Unfall oder ein Verbrechen.“

Ich zuckte die Schultern, das Verhalten dieses Spookies war schon etwas ungewöhnlich, aber das war eigentlich schon alles. „Kann ich mir nich´ vorstellen, Hellen. Haben sie ´ne Ahnung, wie viele Menschen sich nach der anstrengenden Arbeit in irgendso´n verdammten Kunstkosmos versenken, klar, dass da auch mal was schief geht.“

„Ich geh der Sache trotzdem nach.“

Ich nickte und stieg in meinen Wagen, gute Intuition war manchmal mehr wert als die bloßen Fakten, ich dachte an die Speicherkarte in meiner Hemdtasche, ich war mit diesem Fall auch noch nicht durch.