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Marcus Haas

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Visionen

Das erste Mal hatte ich diese Visionen als Kind, aber da mir meine Eltern keinen Glauben schenkten und nur von meiner Fantasie begeistert waren maß ich ihnen viele Jahre lang nur wenig Bedeutung zu.

Erst als ich merkte, dass meine Eindrücke immer wieder Zusammenhänge mit Ereignissen zeigten, die kurze Zeit später eintraten begann ich mich zu wundern, was es mit diesen Visionen auf sich hatte.

Ich hatte mir nie viel aus Okkultismus gemacht, denn schon in der Schule hatte ich gemerkt, dass ich Pendel beeinflussen konnte, wenn ich nur daran dachte, in welche Richtung sie ausschlagen sollten. Das machte mich zwar in der Klasse recht beliebt, weil ich jedem Vorhersagen konnte was ich wollte aber ich betrachtete das Ganze doch eher als Scharlatanerie und nicht für einen Weg, die Zukunft vorherzusagen. Selbst wenn ich manchmal richtig lag, redete ich mir doch immer ein, dass das nur Zufall sei.

Aber gegen Ende meiner Ausbildung hatte ich diese Begegnung mit einer Kundin, als sie ins Büro kam, wusste ich praktisch sofort, wer sie war und was sie von mir wollte.

Ob sie meine Anspannung gespürt hat, weiß ich nicht, aber unser Gespräch zeigte mir, dass ich in vielen Punkten recht gehabt hatte. Ich erwähnte aber nichts davon, was ich gespürt hatte. Ich wollte die Kundin nicht mit irgendwelchem Hokuspokus verprellen.

Aber von diesem Zeitpunkt an begann ich, die Nähe zu derartigen Praktiken zu suchen. In den passenden Zirkeln fand ich die Darbietungen der angeblichen Hellseher aber eher lächerlich, nicht, nur weil ich dieselben Empfindungen viel klarer und mit weniger Rumgestotter hätte äußern können, sondern weil ich den Eindruck hatte wirklich in die Menschen, um mich herum hineinschauen zu können.

Eines Tages wagte ich mich dann das Medium auf meine eigenen Eindrücke anzusprechen und hatte das Glück an jemanden zu geraten, der meine Fähigkeiten nicht mit einem Wimpernzucken als Fantastereien abtat.

In einer der nächsten Sitzungen stellte mich das Medium den Gästen vor und erlaubte mir meine Fähigkeiten an den Anwesenden zu prüfen. Natürlich lag ich nicht jedes Mal richtig, tatsächlich hatte ich selbst den Eindruck eine ziemlich erbärmliche Vorstellung abzugeben aber das Publikum war sehr bewegt von meinen Ausführungen und das Medium versicherte mir, dass die Nervosität in weiteren Sitzungen nachlassen würde.

Allmählich machte ich mir so einen Namen als Hellseher, natürlich nahm ich nie Geld für meine Leistungen, ich hatte ja einen festen Job, den ich unter zu Hilfenahme meiner Fähigkeiten sehr erfolgreich ausfüllte.

Aber eines Tages kam diese Frau zu mir. Sie stellte sich als Nicole vor.

"Ich brauche ihre Hilfe."

Ich nickte und betrachtete die Frau. Ich brauchte kein Hellseher zu sein, um zu sehen, dass sie Probleme hatte.

"Die Familie?" fragte ich.

Nicole nickte. "Es geht um meine Schwester, sie ist verschwunden."

"Das ist noch gar nicht so lange her oder?"

Sie schüttelte den Kopf, ohne besonders verwundert darüber zu sein, dass ich in ihr las wie in einem Buch.

"Nein, knapp eine Woche erst."

"Und ich vermute mal, die Polizei hat ihnen nicht helfen können." Dafür brauchte ich keine hellseherischen Fähigkeiten.

Sie nickte wieder. "Können sie mir helfen?"

"Ich bin mir nicht sicher. So was hab ich wirklich noch nicht gemacht."

"Bitte. Bitte versuchen Sie es, ich hab sonst keine Hoffnung mehr."

Ich schaute aus dem Fenster und nickte langsam, wie konnte ich meine Hilfe ablehnen, wenn ich ihre Not so deutlich sehen konnte.

"Haben sie vielleicht etwas Persönliches von Ihr."

Sichtlich erleichtert holte Nicole einen Seidenschal und ein paar Ohrringe aus der Tasche. "Hier, das hat sie immer gemocht."

Ich nahm die Gegenstände entgegen und fühlte die Textur des Schals in meinen Händen. Einige Bilder drangen in mein Bewusstsein.

"Da sind Bäume, vielleicht ein Wald. Aber da ist auch Wasser, ein Haus mit Holz. Sagt ihnen das was?

Sie dachte einen Augenblick nach und nickte dann langsam. "Die Hütte gehörte unseren Großeltern. Ist sie da? Die Polizei hat das ganze Gelände abgesucht aber nichts gefunden."

Ich nickte langsam. "Könnten Sie mich da hin bringen, Nicole?"

Es war nichts Besonderes an dem kleinen Häuschen im Wald, an einer Wand war Brennholz für den Kamin aufgeschichtet. Es gab keine Spuren für einen Kampf weder vor noch im Haus.

"Sind das Spuren von Ihrem Auto?" fragte ich schließlich, als wir wieder auf der Veranda standen. "Ich habe das Gefühl, das sie nicht freiwillig weggefahren ist, vielleicht ist sie nicht einmal selbst gefahren."

"Die Polizei hat den Wagen vor ein paar Tagen in einer Tiefgarage gefunden. Meinen Sie, wir sollten zur Polizei gehen?"

"Ja. Auf jeden Fall. Ich bin mir sicher, dass Simone nicht freiwillig verschwunden ist. Wir sollten auf jeden Fall mit der Polizei zusammenarbeiten.

Sie sah das ein und begleitete mich aufs Revier. Als wir endlich zu dem zuständigen Polizisten vorgedrungen waren, musste ich natürlich erst mal erklären, was ich mit dem Fall zu tun hatte.

"Also bis jetzt haben sie aber nichts gesagt, das die Polizei nicht längst auch herausgefunden hätte," meinte der Beamte. "Ich werde aber trotzdem mal mit meinem Vorgesetzten Sprechen."

Ich nickte, genau das hatte ich auch erwartet. Immerhin würden sie feststellen, dass ich in meinen Visionen ziemlich nahe an den tatsächlichen Ereignissen lag. Wenn es nichts anderes war, dann die Neugierde. Ich war mir sicher, dass sie uns den Wagen zeigen würden.

Und tatsächlich tauchte nach zehn Minuten ein Beamter in Zivil auf, der sich als Kommissar Beckmann vorstellte.

"Gleich vorweg. Ich glaube nicht an Wahrsagerei aber ich bin neugierig. Erzählen sie mir was von ihren Visionen. So nennt man das doch oder?"

Ich stimmte ihm zu und erzählte, was ich herausgefunden hatte.

"Interessant. Wie kommen Sie darauf, dass sie nicht freiwillig mitgekommen ist?"

"Wie gesagt, ich kann nur meine Eindrücke beschreiben nicht, woher sie kommen."

Beckmann überlegte einen Augenblick. "Wir haben tatsächlich hinweise darauf, dass sich Simone Jansen im Kofferraum des Wagens befunden hat. Da die Spurensicherung soweit abgeschlossen ist, kann ich es wohl verantworten sie an den Wagen zu lassen," und an Nicole gewandt: "Ich weiß nicht, ob sie sich das auch antun wollen?"

Aber Nicole wollte sich nicht ausschließen lassen.

Während ich den Wagen vorsichtig von allen Seiten betrachtete, erzählte Kommissar Beckmann, dass man im Kofferraum ein Haar und Nasensekret von Simone gefunden hatte sie war demnach zu diesem Zeitpunkt noch am Leben, offensichtlich hat sie niesen müssen. Ich sah bei diesen Worten deutlich, wie die Hoffnung ihre Schwester lebend wiederzufinden stieg.

"Ich sehe einen zweiten Wagen."

Beckmann nickte unbeeindruckt, davon war er auch ausgegangen.

"Einen Kombi, vielleicht sogar ein Van. Haben Sie die benachbarten Parkplätze untersucht?"

"Selbstverständlich, aber in einem Parkhaus kann man kaum verwertbare Hinweise finden."

"Ich möchte das Parkhaus sehen."

Der Kommissar zuckte mit den Achseln und nickte dann, seine Schicht ging zu Ende und er fand die ganze Sache einfach zu spannend, um jetzt davon zu lassen.

Ich stand auf dem Parkplatz, die Tiefgarage des Parkhauses war um diese Zeit so gut wie leer. Es Roch nach Abgasen und Beton. Plötzlich hatte ich einen starken Eindruck von einem dunkeln Wagen.

"Er war aufgeregt. Ich glaube er hat hier beim Wegfahren einen Unfall gehabt."

Der Kommissar zog die brauen hoch.

Ich schaute mich an den Stützpfeilern bei den benachbarten Parkplätzen um. Tatsächlich. Da war ein Kratzer und dunkle Lacksplitter.

Beckmann kniete sich neben mir auf den Boden. "Das können sie aber nicht gesehen haben, als wir hier runtergefahren sind."

Ich wusste, dass er noch skeptisch war, aber diese Haltung änderte sich zusehends. Er nahm sein Mobiltelefon und rief bei der Spurensicherung an.

"Das heißt nicht, dass ich ihnen glaube, dass da was dran ist. Ich will mir nur nicht vorwerfen lassen müssen nicht jedem Hinweis nachgekommen zu sein. Wir werden die Parkwächter noch mal befragen, um festzustellen, ob ein dunkel lackierter Wagen hier mit einer Schramme weggefahren ist, nachdem Frau Jansens Wagen hier abgestellt wurde."

"Mehr kann ich nicht verlangen."

Zwei Tage Später klingelte das Telefon, ich sollte aufs Revier kommen. Nicole wartete schon, als ich schließlich eintraf.

"Ich dachte mir, dass sie das gerne Hören würden. Wir haben den wagen wahrscheinlich gefunden. Die Parkwächter haben nämlich wirklich einen dunklen Wagen beschreiben, der es scheinbar sehr eilig hatte, wenn auch ohne erkennbare Schramme. So wie es aussieht, ist der Wagen spät in der Nacht gekommen und nach sehr kurzer Zeit wieder abgefahren. Das ist schon etwas ungewöhnlich."

Ich hörte aufmerksam zu, das war noch lange nicht alles, was und der Kommissar erzählen wollte.

"Aber das dicke Ende kommt noch. Der Wagen ist bei Rot über eine Ampel gefahren und wurde dabei geblitzt. Leider trug der Fahrer Hut und Sonnenbrille und der Wagen war gestohlen. Trotzdem hat uns Ihr Hinweis ganz schön weitergebracht."

Ich lächelte. "Sie haben den Wagen gefunden, nicht wahr?"

"Ja. Heute Morgen hat ihn eine Streife entdeckt, stand in einer Seitenstraße. Ihre Schwester war nicht darin," wandte er sich dann an Nicole.

"Wollen Sie den Wagen sehen?"

"Ja gerne."

Diesmal durfte ich nicht so nah an das Fahrzeug, weil die Spurensicherung noch in ihren weißen Overalls damit beschäftigt war, aber ich war dicht genug, um ein paar Eindrücke sammeln zu können.

"Der Entführer hat sie mit dem Wagen zu sich nach Hause gebracht, oder zumindest irgendwohin, wo er sich sicher fühlte. Dann hat er den Wagen irgendwo abgestellt. Vielleicht ist er mit dem Bus zurückgefahren. Ich denke Nicole lebt noch."

Beckmann nickte zustimmend, soweit hatte er sich das auch überlegt.

"Das sagen mir die Leute von der Spurensicherung auch, wie wär´s mal mit was Neuem?"

Ich hätte ihn darauf hinweisen können, dass sie den gestohlenen Wagen ohne mich gar nicht mit der Entführung in Verbindung gebracht hätten, aber ich unterließ es. Beckmann stand unter ungeheurem Druck. Simone war jetzt schon 8 Tage verschwunden und mit jedem Tag sanken die Chancen, sie lebend zu finden.

"Ich bemühe mich," sagte ich statt dessen. Dann traf es mich. "Ein Rasen, Bäume. Das Haus steht frei, ein Bauernhaus vielleicht, ich sehe Fachwerk. Der Wagen steht in der Garage. Nein eine Garage ist das nicht. Verfallen. Alles ist alt, da hat schon lange niemand mehr gewohnt."

"Wow. Beeindruckend," ließ sich einer der Beamten vernehmen, der gerade mit Beckmann sprechen wollte.

"Wieso?"

Der Beamte hielt zwei Plastiktüten hoch. "Ohne Analyse ist das nur vorläufig, aber wir haben einen Backsteinsplitter und Erde im Reifenprofil gefunden. Der Splitter sieht schon älter aus, könnte also durchaus von einem alten Gebäude stammen."

"Reicht das um die Region eingrenzen zu können?"

"Der Backstein allein nicht, aber wir haben eine Datenbank mit Bodenproben, damit sollten wir auf ein paar hundert Kilometer rankommen. Hoffentlich treffen wir da nicht gerade auf ein Museumsdorf."

"Quatschen Sie nicht so lange. Bringen sie die Sachen ins Labor. Ich will die Ergebnisse gestern gehabt haben."

"Wie immer." Damit verschwand der Beamte.

"Langsam werden Sie mir doch unheimlich. Können Sie auch die Lottozahlen vorhersagen?"

Ich lachte und schüttelte den Kopf.

Zwei Stunden später waren sechs Zivilstreifen unterwegs ins Umland zu drei alten Bauernhöfen, die auf das Profil passten. Nicole und ich saßen im Heck des Autos, das von Kommissar Beck gelenkt wurde. Mit Blaulicht und Sirenen preschten wir die Autobahn hinunter wir hatten keine Zeit mehr zu verlieren.

Mir wurde fast schwindelig, als ich den alten Schuppen sah, der hinter dem halb verfallenen Haus stand, die Übereinstimmung mit meinen Visionen traf mich wie ein Schlag.

"Sie sehen etwas blass aus."

"Wir sind hier richtig. Ich bin mir ganz sicher."

"Ja, das kann ich gut verstehen. Sie sind verhaftet!"

"Wie bitte?" Ich war zu geschockt um mich wehren zu können, als man mir die Handschellen anlegte.

"Sie haben unsere Show sehr schön mitgespielt, wir wissen noch nicht, ob sie nur Pervers sind oder an Ihrer Reputation als Hellseher feilen wollten. Wir haben Simone schon heute Morgen aus dem Keller dieses Gebäudes befreit, ganz ohne ihre Hilfe."

"Aber davon konnte ich doch nichts wissen."

Beckmann lachte mir ins Gesicht. "Ich weiß nicht, wie ihr Gehirn funktioniert aber man könnte fast glauben sie leiden an einer Persönlichkeitsspaltung. Haben Sie vergessen, dass Simone eine ihrer Klienten war. Sie hat sie am Vorabend ihres Verschwindens angerufen. Ihre Schwester sagte uns, dass sie persönliche Probleme hatte, kein Wunder, wenn man sich auf diesen Hokuspokus einlässt."

Ich warf einen Seitenblick auf Nicole, aber sie starrte mich nur wütend an, froh ihre wahren Gefühle nicht mehr verbergen zu müssen.

"Haben sie sich nicht gefragt, warum Nicole zu Ihnen gekommen ist, aber da hat ihnen Ihr Ego wohl einen Strich durch die Rechnung gemacht."

"Das ist doch alles Blödsinn! Warum sollte ich so was machen."

"Sie sind vor drei Wochen entlassen worden, es ist wohl gar nicht so einfach, seinen Lebensstil aufrecht zu erhalten und die Miete zu bezahlen, wenn man die Lottozahlen nicht vorhersagen kann. Also haben sie nach einer Möglichkeit gesucht sich einen guten Ruf zu verschaffen, was wäre da besser als der Polizei zu helfen eine entführte junge Frau zu finden. Das gäbe eine tolle Presse was."

"Sie können mir nichts davon beweisen."

"Wieder falsch geraten. Als sie Simone mit Chloroform betäuben wollte, hat sie geistesgegenwärtig die Luft angehalten. Sie hat sich nicht getraut sich zu wehren, als Sie sie gefesselt und geknebelt haben, aber sie hat sie sehen können, bevor sie Ihr die Augen verbanden und hat sie vorhin gut Beschrieben und als ihren Wahrsager identifiziert."