Kurzgeschichten

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Marcus Haas

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Flut

 Als Sie im Radio sagten, dass die Deiche gebrochen seien, da wusste ich, dass der Kampf verloren war. Wir hatten verloren. Die Fluten würden sich holen was ihnen zustand, und das war halb Europa, und ein großer Teil des Restes dieser Welt, die nach der Flut nicht mehr dieselbe seien, würde wie zuvor, sie war es auch schon seit Monaten nicht mehr gewesen.

Es begann alles ganz harmlos, so wie die großen Katastrophen immer ganz harmlos anfingen, irgendein Wissenschaftler erzählt in irgendeiner belanglosen Talkshow, dass es in den Polregionen zu verstärkten Niederschlägen gekommen sei, was soll`s, ich hab mir nichts dabei gedacht, die Arktis ist doch weit weg. Es vergingen Wochen, bis wir erneut eine Meldung erhielten, am Südpol begannen die großen schwimmenden Eisfelder, zu schmelzen. Das war noch nicht weiter tragisch. Schwimmendes Eis verdrängt genauso viel Wasser, wie es später dem Meer wiedergibt. Es mag zu dieser Zeit schon den einen oder anderen Pessimisten gegeben haben, der ahnte, was unserer Zivilisation nun bevorstand, ich gehörte nicht zu diesen Leuten, über so etwas hatte ich mir nie den Kopf zerbrochen.

Das eigentliche Problem ließ wieder einige Wochen ins Land gehen, bevor es sich offenbarte, der westantarktische Eisschild begann, seiner kalten Stütze beraubt, abzurutschen.  

Mir wurde erst bewusst was passieren würde, als ich mit meiner Freundin eines Abends vor der Glotze saß und mir mit ihr die Tagesschau ansah, wir hatten uns wegen irgendeiner Kleinigkeit in die Wolle gekriegt, und so war die Stimmung etwas gedrückt, ich weiß nicht mehr, worum es ging. Es wurde eine Karte von Europa gezeigt, vor, und nach der Katastrophe. Ich erinnere mich wie Klara sagte, dass das schrecklich sei, ich nickte wortlos, es war die ganze Zeit so offensichtlich gewesen, aber wir hatten die Situation nicht ernst genommen, es gab hier in Deutschland doch keine Naturkatastrophen, nun ja, jedenfalls nicht bei uns in Bremen.

Es war bedrückend festzustellen, dass dies alles in einigen Monaten nicht mehr sein sollte. Kein Schnoor, kein Roland und keine Böttcherstraße mehr, alles unter Sedimenten und wenigstens zweihundert Metern Wasser begraben. Klara nahm damals meine Hand und ich weiß noch, dass ich sie fest hielt, eine ganze Weile, bevor ich sie zu mir zog und umarmte, mein kleines Mädchen hatte Tränen in den Augen.

Das alles ist gerade drei Monate her, eine unvorstellbar lange Zeit, von der bekannten geruhsamen Ordnung mit vielleicht ein wenig trägen Menschen hier in unserer Heimatstadt im Norden Deutschlands, eine Ewigkeit war das her bis zum heutigen Tag. Ich schaltete das Radio ab, es gab keine Neuigkeiten, nichts was uns jetzt noch helfen konnte, nichts was uns jetzt noch interessierte, ich nahm das Radio von der alten Kommode, sie hatte einmal meiner Großmutter gehört, und steckte es in die letzte offene Reistasche.

Klara und ich hatten uns spät entschlossen zu gehen, das Wasser stieg langsam, und wir hatten die Abreise lange aufgeschoben, vor zwei Tagen erst sind unsere letzten Nachbarn in den Süden gefahren, sie hatten Verwandte in der Nähe von München. Klara und ich hatten keine Verwandten, und nicht das Geld all unsere Möbel mitnehmen zu können. Die Hochhauswohnung würden wir möglicherweise nicht einmal besonders vermissen, aber es war etwas Eigenes, etwas das uns gehörte, was uns jetzt erwarte, war eine Turnhalle, ein Vorhang, der uns von den Nachbarn trennte, und das für die nächsten Monate, vielleicht ein Jahr, bis man uns in eine der billigen Plattenbauten stecken würde, die überall im Süden entstanden. Es würde ein seltsames Gefühl sein. Ich stellte mir vor, wie es sei, vom Harz aus die Nordsee sehen zu können, ich verkniff mir das Lächeln, als ich die Reisetasche zu unserem alten Volvo Kombi schleppte.

Die Stoßdämpfer ächzten leise unter der Last, aber es war nur das nötigste, nein nicht einmal das, viel zu viel mussten wir zurücklassen.

Ich stapfte ein letztes mal die Stufen hinauf drei Etagen, ich wollte den Fahrstuhl nicht benutzten, die Treppen waren heute viel Persönlicher, ich würde sie niemals wieder sehen. Vor unserer hellgrünen Tür mit dem fast blinden Spion stand Klara, sie hatte Tränen in den Augen, als sie die Tür abschloss. Ich weiß nicht, wieso sie dass tat, aber ich selbst spürte die Verzweiflung, als ich diese hilflose Geste beobachtete. Ich legte meinen Arm um das Mädchen, sie erschien mir heute zerbrechlicher als sonst.

"Wird´s gehen?" fragte ich leise.

"Es muss!" sie wischte sich mit dem Ärmel ihres hellen Strickpullovers über die feuchten Augen, und versuchte zu lächeln. Ich wusste, dass sie mich nicht wissen lassen, wollte wie schwer es ihr viel zu gehen. Aber ich kannte meine Klara schon zu lange, es war auch für mich nicht einfach.

Klara drückte mir eine Plastiktüte in die Hand. "Nur noch etwas Kleinkram." Flüsterte sie, dann steckte sie die Schlüssel in ihre Hosentasche, und ließ ihre Hand ebenfalls dort, umklammerte das kalte Metall, bis es heiß wurde. Sie drehte sich um.

"Lass uns die Treppe nehmen, ich mag heute keinen Fahrstuhl benutzen."

Ich nickte, ich brauchte nichts mehr zu sagen. Langsam stiegen wir die steinernen Stufen hinab, zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass es sich nicht einmal um echten Stein handelte.

"Was wird nur aus uns werden." Klara sprach sehr leise, aber die Worte schienen im kalten Treppenhaus nachzuhallen, es kann auch in meinem Kopf gewesen sein.

"Ich wünschte ich könnte es sagen." Gab ich ebenso leise zurück, und wischte ihr eine weitere Träne von der Wange, Klare hatte das Tröpfchen aus salzigem Wasser gar nicht bemerkt. Ich spürte das Nass auf meinem Daumen und müsste unwillkürlich an die Wassersäule denken, die bald über diesem Haus stehen würde, ebenfalls Salzwasser.

Ich zog die Tür hinter uns ins Schloss und schaute zurück, bis das Licht im Flur verlosch, morgen oder übermorgen würde der Strom abgestellt werden, während die Atomkraftwerke im Flutgebiet schon lange heruntergefahren worden waren, liefen immer noch die Kohlekraftwerke und die Windräder.

Klara stand vor dem Dunkelgrünen Volvo und blickte die steile Wand des grauen Hochhauses hinauf. "Weißt du, ich habe dieses Haus eigentlich nie wirklich gemocht."

Ich nickte, aber ich wusste, dass das nicht stimmte.

"Ich weiß nicht, wieso es mir so schwer fällt, zu gehen." Ihre Stimme klang laut und fest, aber sie zitterte, und ihre Augen waren feucht, ich wusste es war nicht die kleine Eigentumswohnung, die wir noch nicht einmal ganz abgezahlt hatten, es waren die Erinnerungen, die an unsere vier Wände gebunden waren, nicht nur die Guten, auch ein paar Schlechte, dies war unser Leben für nun beinahe neun Jahre. Es war etwas anderes in eine neue Stadt zu ziehen, in dem Bewusstsein eines Tages die Möglichkeit zu haben zurückzukehren und zu sagen, schau, hier hat alles begonnen, erinnerst du dich noch. Nein die war anders, diesmal gab es kein zurück, dieses Haus würden wie niemals wiedersehen.

"Wir haben unsere Erinnerung, Klara. Das kann uns niemand nehmen." Ich ernte eine feste Umarmung für meinen schwachen Trost.

"Du weißt stets was du zu sagen hast, um mich zum Heulen zu bringen." Schniefte sie und musste doch auch grinsen, als sie sich in den Beifahrersitz des alten Wracks fallen ließ. Ich schloss die Tür hinter ihr, und gab dem Blech einen freundlichen Tritt, das brauchte die Tür, um ordentlich zu schließen. Klara schnäuzte ihre hübsche Nase.

Röchelnd starte der Motor, und rasselnd zog der Wagen an, und langsam, zu langsam zuckelten wir vom leeren Parkplatz. Es hatte angefangen zu regnen, wie leise Vorboten des Untergangs klopften die Tropfen an die Windschutzscheibe.

Noch als wir auf die freie Autobahn fuhren, warf Klara immer wieder einen Blick zurück, und bald verschwand der graue Wohnsilo auch aus meinem Rückspiegel.

"Das war´s dann wohl," murmelte Klara, und ich musste lächeln, das war lange Zeit ihr Lieblingszitat von Douglas Adams gewesen.

"Ja, heute beginnt ein neues Zeitalter." 

"Vielleicht lernen wir daraus wenigstens etwas."

Ich nickte, das war uns, der ganzen Menschheit, wirklich zu wünschen.


Bremen den 2. Januar 2017