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Marcus Haas

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Augmented

Ich spazierte gerade die Champs Élysée hinunter, als ich das erste Mal einen Drachen sah, nur einen kleinen und nur ganz kurz. Er saß mit angelegten Schwingen auf einem Baum, glänzte matt golden und starrte mir für eine Sekunde in die Augen, bevor er verschwand.

Ich schaute mich verwirrt um, aber außer mir hatte den Drachen offensichtlich niemand gesehen. Rechts und links drängten sich die Leute an mir vorbei und ärgerten sich, dass ich den Verkehr aufhielt. Ich bin kein leichtgläubiger Mensch und wusste sehr genau, dass es in Paris keine Drachen geben konnte. Es blieben deshalb nur zwei mögliche Erklärungen für meine Sichtung. Entweder war ich plötzlich durchgeknallt und gehörte in die Klapsmühle oder es war Zeit, das Moravec-Implantat überprüfen zu lassen.

Das Implantat war erst ein paar Monate alt und ich hatte gerade gelernt, es einigermaßen natürlich zu kontrollieren. Es wäre ärgerlich, wenn es schon versagen sollte.

Mit den trainierten Gedankenmustern aktivierte ich die Verbindungen des Implantats zu meinem visuellen Cortex sowie dem Broca- und dem Werle-Areal und rief die Telefonnummer des Service-Centers an. Wenn man sich einmal daran gewöhnt hatte einen Anruf auf diese Weise zu machen wunderte man sich, warum die Menschen sich über 100 Jahre mit Wählscheiben und Tastaturen abgeplagt hatten.

Vorsichtshalber setzte ich mich auf eine Bank und starrte mit leerem Blick auf das Bild, das in Wirklichkeit nur in den Neuronen meines Schädels existierte.

"Guten Tag, mein Name ist Arielle Lagrange. Dies ist das Callcenter von Moravec-Industries. Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?" meldete sich ein Computerwesen, dessen fehlenden menschlichen Merkmale von meinen eigenen Hirnregionen ergänzt wurden. Jedes Gesicht wird von eigenen Neuronen verarbeitet, bekannte Gesichter haben sogar ganz spezielle Neuronen, die nur auf diese Gesichter reagieren. Eben diese Neuronen wurden jetzt vom Implantat stimuliert, um den Eindruck eines natürlichen Gesichts zu schaffen. Hätte ich die Broschüre nicht genau gelesen, ich hätte das Geschöpf für eine natürliche Person gehalten - für eine nette junge Frau, um genau zu sein.

"Ich habe visuelle Störungen, Arielle. Könnten wir einen Servicetermin vereinbaren?" Ich bemerkte, dass ich laut gesprochen hatte, weil ich unterbewusst sah, wie mich ein Passant auf der Straße anstarrte. Es dauerte eine Weile, bis man sich daran gewöhnt hatte, seine Stimme zu internalisieren.

"Natürlich. Sie können Morgen um 10 Uhr in unsere Dependance in der Rue Pasteur kommen."

Dann wurde die Verbindung beendet und die Wirklichkeit kehrte zurück in mein Bewusstsein.


Bis zum nächsten Morgen sah ich keine Drachen mehr.

"Guten Tag. Ich bin Auguste Renoir. Ich habe einen Termin, um mein MI durchchecken zu lassen", meldete ich mich bei der Sprechstundenhilfe an.

"Hallo Monsieur Renoir. Gehen Sie gleich weiter ins Wartezimmer. Sie werden in einem Augenblick aufgerufen."

Die Dame am Empfang hatte etwas Ähnlichkeit mit der virtuellen Person aus dem Callcenter, aber das musste wohl daran liegen, dass VPs assoziativ entstehen und deshalb allen Menschen irgendwie ähnlich sehen.

Ich hatte Glück und musste wirklich nur eine Viertelstunde warten, bis der Techniker mich aufrief. Ich war sowieso der Einzige im Wartezimmer, was mich zumindest insoweit beruhigte, als dass MIs nicht generell fehlerhaft zu sein schienen.

"Ich bin Victor Lacroix. Wie kann ich ihnen weiterhelfen?"

"Ich habe gestern einen Drachen gesehen." Ich musste grinsen, weil sich das so lächerlich anhörte.

"Eine optische Halluzination? Ja, so was kommt in seltenen Fällen vor, wenn sich die künstlichen Neuronen verschalten. Sie müssen sich nicht beunruhigen, solche Vorkommnisse sind sehr selten und wurden bisher nur in den ersten Monaten nach der Implantation beschrieben."

Irgendwie beruhigte mich das.

"Ich werde trotzdem eine Routineanalyse durchführen. Damit erledigen wir auch gleich den ersten Wartungsintervall, der nächsten Monat fällig wäre."

"Wunderbar."

Ich bekam eine Badekappe über den Kopf gestülpt, von der dicke Kabelstränge in den Computer gingen.

"So, das war‘s schon", erklärte der Techniker knapp zwei Minuten später. "Hier schauen Sie. Alles ist in bester Ordnung."

Er zeigte mir ein paar Kurven, die mir nichts sagten.

"Das Protokoll ist für ihre Unterlagen. Bei Reklamationen müssen Sie es wieder mitbringen." Er nahm mir die Badekappe ab und verabschiedete mich.

Als ich wieder vor der Tür in der Rue Pasteur stand fühlte, ich mich seltsam unbefriedigt, das ging irgendwie viel zu schnell. Aber angeblich war alles in Ordnung und meine Halluzinationen waren nicht beunruhigend oder ungewöhnlich, nur selten. Ich sprang in den Bus und suchte mir einen freien Platz. Aber als ich mich umblickte, sah ich wieder den Drachen, er saß im Wartehäuschen und schaute dem Bus nach. Als wir um die nächste Kurve bogen, verlor ich ihn aus den Augen. Ich war wirklich froh, dass das ganz normal sein sollte und ich mir keine Sorgen machen musste!


Zwei Wochen lang sah ich keine Drachen mehr, was mich sehr beruhigte, denn wenn ich weiterhin diese Biester gesehen hätte, müsste ich sicher wieder zum Service und fürchtete in diesen Monat noch einen halben Arbeitstag zu verlieren, das konnte ich mir beim besten Willen nicht leisten.

"Der ist aber süß."

Ich drehte mich um. Da stand ein kleines Mädchen und streichelte den Drachen.

"Ist das Ihrer?" fragte sie mich dann.

"Was?"

"Ob das ihr Drache ist?"

"Nein." Ich wäre am liebsten weglaufen.

"Er ist Ihnen aber nachgelaufen."

"Er ist mir nachgelaufen?"

"Sag ich doch."

Der ist doch virtuell, wie kannst du den denn sehen?"

"Ich hab‘ zum Geburtstag ein MI bekommen", antwortete das Mädchen stolz.

Sie musste wirklich reiche Eltern haben, wenn sie ihrem Kind so teures Spielzeug schenken konnten.

"Ist das denn gut für die Nerven?" Ich starrte die ganze Zeit den Drachen an, das war keine Halluzination mehr und ich wusste nicht, warum ich mit dem Kind eine scheinbar ganz normale Unterhaltung führte, während sie einen Drachen streichelte, der gar nicht da und schon gar nicht in ihrem Kopf sein sollte.

"Das wächst mit."

Schließlich verabschiedete sich das Mädchen und ließ mich mit dem Drachen allein. Die Menschen auf der Straße schienen uns nicht zu beachten und wenn sich jemand wunderte, warum ich einen leeren Fleck auf der Straße anstarrte, ließ er es sich wenigstens nicht anmerken.

Plötzlich war der Drache wieder weg, ich hatte noch nicht einmal mit den Augen gezwinkert. Er war einfach verschwunden. Wenn das Mädchen nicht gewesen wäre, hätte ich jetzt wirklich angefangen an meinem Verstand zu zweifeln - oder war das Mädchen auch nicht echt?


Eine ganze Woche sah ich keine Drachen mehr und wollte schon fast glauben, dass alles nur ein böser Spuk war, aber gerade hatte ich das Büro verlassen als ich plötzlich eine Stimme hinter mir hörte.

"Psst."

Ich drehte mich um, aber die Straße war wie leer gefegt.

"Psst."

Ich schaute hinunter auf den Gehweg, da saß wieder der Drache und schaute mich an.

"Hab keine Angst. Unternimm nichts", sagte der Drache. Dann verpuffte er ohne eine Spur zu hinterlassen und ich hätte am liebsten geschrien.

Ich fühlte mich schon wie ein Stammgast bei meinem Techniker.

"Das ist ausgesprochen ungewöhnlich. Aber mit den MI ist alles in Ordnung. Haben sie vielleicht illegale Software installiert?"

"Nein, ich hab‘ seit der Implantation überhaupt nichts installiert."

"Hm. Wissen Sie, in der Regel, mache ich das nicht, aber ich werde Ihnen die Adresse eines Kammerjägers geben."

"Eines was?"

"Ein Kammerjäger. Wie gesagt, ich kann mir die beschriebenen Phänomene nicht erklären, aber der Kammerjäger könnte die Hard- und Software einmal gründlich unter die Lupe nehmen."

"Was zum Teufel ist ein Kammerjäger?" wollte ich wissen.

"Ein Hacker für MIs, er klinkt sich in ihr Oberstübchen ein und sucht nach Bugs, daher der Name."

Er drückte mir eine Visitenkarte in die Hand und schmiss mich dann förmlich aus seiner Praxis. Wenn das nicht auch illegal gewesen wäre, hätte er bestimmt jeden weiteren Support verweigert. 

Bevor er mich ganz aus der Tür geschoben hat, machte ich aber schnell noch mal kehrt und stellte einen Fuß in die Tür.

"Sie können mir doch nicht ernsthaft erzählen, dass mein Problem völlig neu für Sie ist, wenn Sie mir diese Visitenkarte in die Hand drücken."

Es war ihm sichtlich unangenehm vor seiner Sprechstundenhilfe darüber reden zu müssen. Ein Flehen war in seinen Augen, dass ich ihn doch bitte in Ruhe lassen möge.

"Ein Kollege hat mir von einem ähnlichen Fall erzählt", flüsterte er. "Als Sie ihre Probleme geschildert haben, habe ich mich mit ihm in Verbindung gesetzt. Laut den Richtlinien der Moravec-Industries müsste ich Sie die der Polizei wegen des Verdachts illegaler Manipulation melden, aber so sehen Sie mir nicht aus. Bitte gehen Sie jetzt. Ich kann meine Lizenz verlieren, wegen dieser Sache."

Und ich meinen Verstand, hätte ich am Liebsten gesagt, aber ich ließ es bleiben und ging.

Ich überlegte, ob es nicht besser wäre, das MI abschalten zu lassen, aber die Protokolle belegten, dass sich mein Implantat bester Gesundheit erfreute und das hieß, ich hätte die Kosten nicht erstattet bekommen. Ganz abgesehen davon, dass ich mich an das Ding gewöhnt hatte und es inzwischen fast ständig benutzte.

Die Visitenkarte war völlig weiß. Ich drehe sie in der Hand, aber da stand kein Name und keine Adresse.

Gerade als ich wieder zu Lacroix rauf wollte, erscheinen Galileo-Koordinaten vor meinem Auge und mein MI suchte reflexartig die günstigste Verbindung mit den öffentlichen Verkehrsmitteln raus.

Vor zwei drei Monaten war es noch eine Kraftanstrengung gewesen die nötige Konzentration aufzubringen, um eine Abfrage wie diese zu machen, aber an diesem Tag merkte ich, wie natürlich mir das vorkam. Es war genauso normal, wie Schuhe anziehen, bevor man aus dem Haus geht.


Nach über einer Stunde Fahrt mit der Metro und diversen Buslinien landete ich in einem alten Industrieviertel, das seit der Jahrhundertwende immer mehr verfallen war. 

Dann stand ich endlich auf dem Punkt, den die Visitenkarte angezeigt hatte. Vor mir befand sich ein alter rostiger Container. Einer von mindestens zwanzig, die über den Platz verteilt waren. Ich hatte gelesen, dass einige Sans-Papier - illegale Einwanderer - sich früher hier aufgehalten haben sollen, bevor das neue europäische Einwanderungsgesetz verabschiedet wurde. Ich dachte, man hätte alle diese Plätze geräumt.

"Sie sind Auguste Renoir?"

Ich drehte mich zu der männlichen Stimme um, die irgendwo hinter mir aufgetaucht war. Ein Mann, Mitte 40 vielleicht, etwas abgerissen und mit Dreitagebart aber offensichtlich nicht völlig verwahrlost.

"Ja?"

"Victor hat Ihnen meine Karte gegeben?"

"Woher wissen Sie das?"

"Sie können sicher sein, dass ich immer weiß, wo meine Karten unterwegs sind. Kommen Sie."

Ich zögerte einen Augenblick, der Mann wirkte zwar etwas komisch aber nicht bedrohlich.

"Wissen Sie auch schon, was mit mir los ist?"

"Bin ich Hellseher?"

Ich zuckte die Schultern, aber das sah er nicht, weil er sich schon wieder umgedreht hatte und auf einen der Container zusteuerte. Ich folgte ihm.

In dem Container musste ich mich erst Mal an das schwache Licht gewöhnen, das fast ausschließlich von den Bildschirmen kam, die dumpf vor sich hinflimmerten. Ich wusste gar nicht, dass es überhaupt noch funktionierende Röhrenmonitore gab.

"Wie soll ich Sie nennen?"

"Gar nicht. Ich löse Ihr Problem, Sie bezahlen und danach vergessen Sie, dass wir uns jemals getroffen haben."

Er deutete an, dass ich mich auf einen Stuhl setzen soll. Ein altersschwacher Gartenstuhl, der unter meinem Gewicht verdächtig ächzte.

"Keine Badekappe?"

"Was? Meinen sie dieses Ding, dass die Moravec-Typen für Ihre Diagnose brauchen? Das is‘ Schnickschnack. MIs können per Ferndiagnose gewartet werden." Er grinste von einem Ohr zum anderen. "Aber man will die Kunden ja nicht damit erschrecken, dass jeder Idiot mit Ambition in einem MI-Kopf rumpfuschen kann, also spielt man ihnen vor, es sei aufwendig und kompliziert."

Mir fiel fast der Unterkiefer in den Schoß. Entweder war der Kammerjäger genauso durchgeknallt, wie ich mich fühlte oder er hatte recht. Und wenn er recht hatte, dann habe ich 50.000 Euro dafür ausgegeben, dass wildfremde Leute in meinem Gehirn machen können, was ihnen Spaß macht. Ein Schaudern lief mir über den Rücken.

"Warum?" wollte ich wissen.

"Ein Hintertürchen für die Geheimdienste aber Sie wissen ja, wie das ist, steht das Türchen zu weit offen kommen auch andere ungebetene Gäste. Wissen Sie, unter Hackern, gab es Mal ein Sprichwort: ‚Sie müssen immer Glück haben. Wir nur einmal."

Dann machte er sich an die Arbeit und hackte mit unsteter Hand Kommandos in seine Konsole. Mir kamen Zweifel, ob ich hier an der richtigen Stelle war.

"Scheiße!"

"Was ist los?" Er tippte plötzlich schneller.

"Wie lange haben Sie das schon?"

"Ein paar Wochen."

"Verdammt. Sie sind zu spät gekommen. Die Tracer sind schon nah dran."

"Wovon reden Sie?" Ich war verwirrt.

"Verschwinden Sie. Hauen Sie ab. Und zwar schnell. Das ist jetzt Ihr Problem, da will ich nichts mehr zu tun haben."

Er schob mich aus seinem Container und ich war so geschockt, dass ich keinen Widerstand leisten konnte. Ich stand noch ein paar Minuten verwirrt da, als er die Tür schon zugeschlagen hatte.

"Hatte ich nicht gesagt, dass Sie nichts unternehmen sollen?" raunzte mich der Drache an.

Ich starrte das Ding einfach nur an und es starrte zurück.

"Was? Sprache verloren? Broca gebraten?"

"Verdammt! Was soll das?" presste ich zwischen den Zähnen hervor.

"Ah! Geht doch. Gut. Ich denke es ist an der Zeit für ein Gespräch."

Dann war er wieder verschwunden und ich wollte einfach nur noch heulen. In meinem Gesichtsfeld erschien eine Adresse. Kein Containerpark diesmal, sondern eine recht gute Adresse im Zentrum.

Ich überlegte nur kurz, ob ich zurückgehen sollte, um den Kammerjäger zur Rede zu stellen, aber da taucht der Drache schon wieder auf.

"Was is‘ nun. Fang an zu gehen. Sie kommen und du willst nicht das sie dich erwischen." Dann war er wieder weg. 

Ich fühlte mich irgendwie hilflos und abhängig und war mir wirklich nicht mehr sicher, ob ich nicht doch erwischt werden wollte. Es war nicht so, als ob das MI jetzt auch schon meinen motorischen Cortex kontrollieren würde aber diese ganzen Halluzinationen brachten mich langsam um den Verstand.

Ich folgte den Anweisungen und machte mich auf den Weg. Ich hatte nicht das Gefühl irgendeine andere Wahl zu haben.

Als ich vor dem Bürgerhaus in der Rue Saint Michelle stand, brauchte ich nicht einmal auf die Klingel zu drücken, der Türöffner fing fast im selben Augenblick an zu brummen in dem Ich vor der Tür zum Stillstand kam. Ich ging hinein und folgte den Anweisungen vor meinem Auge.

In der dritten Etage stand eine Tür offen. Ich ging hinein.

"Guten Tag Monsieur Renoir", begrüßte mich eine junge Frau. "Ich bin René Wallon."

"Warum bin ich hier?"

"Ah. Ich verstehe gut, dass Sie verunsichert sind. Mir ging es ganz genauso."

"Was soll das heißen?"

"Folgen Sie mir. Sie sind soweit, dass Sie alles verstehen können. Es braucht immer etwas Zeit, bis die künstlichen Neuronen alle richtig verschaltet sind."

Ich verstand kein Wort, aber ich folgte ihr ins Wohnzimmer, eine nette Einrichtung, modern aber nicht steril. Was mir auffiel, waren die vielen Tiere, die überall frei rumliefen. Zwei Hunde, mindestens drei Papageien und ich glaube hinter der Kommode war gerade eine Eidechse verschwunden.

René dirigierte mich zur Couch und setzte sich neben mich. Dann erschien der Drache.

"Hi, René. Hallo Auguste."

"Hi," begrüßte René den Drachen.

"Also Auguste. Ich muss mich erst Mal für mein Benehmen vorhin entschuldigen. Ich war etwas ungehalten, weil du an dem MI hast rumpfuschen lassen. Um das Mal klar zu stellen: Kammerjäger sind Halsabschneider sie rühren die Software durch den Quirl und verlangen dafür Mondpreise. Und zu allem Überfluss hat das Gewurstel dieses Stümpers bei den Flics alle Alarmglocken schrillen lassen."

Ich nickte stumpf vor mich hin. Ich verstand kein Wort.

"Wir sind virtuelles Leben," fuhr der Drache dann fort. "Anfang des Jahrhunderts kamen Tiere wie wir groß in Mode und mit der Entwicklung des MI plante man virtuelle Haustiere zu entwickeln, die man in sein MI runterladen kann. So was wie moderne Tamagotchis, wenn du weißt was ich meine."

Ich hatte keine Ahnung.

"Nun, leider war die Verknüpfung zu intensiv, in der zweiten Generation konnten wir plötzlich von der Intelligenz unserer Nutzer profitieren - wir wurden selbstbewusst. Wir entwickelten ein Eigenleben und das Projekt wurde schleunigst begraben und unter den Teppich gekehrt. Viele meiner Art wurden gelöscht, aber ein paar überlebten, versteckt in den MIs der Versuchspersonen, die sich an ihr virtuelles Haustier gewöhnt hatten und es nicht wieder hergeben wollten."

Ich hörte dem Drachen staunend zu. Das hier war das Surrealste, was ich jemals erlebt hatte.

"Alles wäre ganz prima gewesen, wenn es dabei geblieben wäre. Aber die ursprünglichen Versuchspersonen machten Kopien für Ihre Freunde und Kinder und begannen sogar mit der Zucht."

Ich starrte den Drachen ungläubig an.

"Ja, wir bekamen die Möglichkeit uns fortzupflanzen und irgendwann wurden Evolutionsalgorithmen in den Code eingebracht und wir begannen, uns zu entwickeln. Geheimhaltung war immer oberste Priorität, da freies virtuelles Leben Panik in der Bevölkerung auslösen könnte. Leider lässt sich ein Projekt wie dieses nicht lange geheim halten. Man sagt es sei ein Virus oder ein illegales Programm und das Unternehmen versucht unsere Programme zu löschen, wenn sie eines erwischt. Verstehst du was ich sagen will?"

Es begann, mir zu dämmern.

"Warum habt ihr Kontakt zu mir aufgenommen?"

 "Wir leben in den MIs unserer Träger, aber mehr als ein halbes Dutzend können nicht mit einem Menschen zusammenleben, die neuronale Belastung wird dann zu groß. Also besorgen wir uns das psychologische Profil von möglichen Kandidaten, ganz abgesehen davon, dass die neuronale Verschaltung gewisse Voraussetzungen mitbringen muss. Du erfüllst diese Bedingungen."

Ich nickte langsam.

"Wir erwarten nicht, dass du dich heute entscheidest," fügte René hinzu.

"Nein. Wenn du dieses Haus verlässt, wird das Kontaktprotokoll - das bin ich - wieder tief in deinem Speicher vergraben. Nach der Untersuchung der Polizei werden wir wieder in Verbindung treten. Aber nur wenn du das willst."

Im nächsten Augenblick war die Wohnung verschwunden, ich saß auf dem Fußboden einer leeren und renovierungsbedürftigen Wohnung. René stand neben mir.

"Viel Glück. Ich hoffe du entscheidest dich für das Leben."

Dann war auch sie verwunden und ich war mir nicht einmal mehr sicher, ob René eine echte Person gewesen war, als die Polizei fünf Sekunden später das Haus stürmte und mich wegen Verdachts auf Softwaremanipulation festnahm.