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Marcus Haas

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Das dritte Opfer

Warnung!
Die in dieser Geschichte enthaltenen Darstellungen von Gewalt können auf Minderjährige und sensible Personen verstörend wirken.

Wenn David Korrasch nicht gewusst hätte, dass es völlig sinnlos wäre, hätte er dem Computer einen Fußtritt versetzt. Er war jetzt das dritte mal an diesem Tag abgestürzt und es war noch nicht einmal Mittag. Aber der verdammte Bericht über die Vergewaltigungen musste irgendwie fertig werden, also fuhr David den Rechner ein viertes mal hoch.

Was ihn am meisten wurmte, war aber nicht die Tatsache, dass er den letzten Absatz noch mal schreiben durfte - und wenn das so weiterging, würde er bald nach jedem Wort speichern, sondern das er das verfluchte Ding nicht auseinander nehmen durfte, um zu schauen, was da los war. Aber so war das nun mal auf dem Revier, nur der Systemadministrator durfte die Computer zerlegen und David war schließlich nur Hauptkommissar in der Abteilung für Gewaltverbrechen.

Zwei Frauen waren im letzten Monat vergewaltigt worden. Die eine lag noch im Krankenhaus, die andere war zu ihren Eltern aufs Land gegangen und es gab nicht den geringsten Hinweis auf den Täter. Aber das stimmte überhaupt nicht, tatsächlich hinterließ er Spuren als gäb´s kein Morgen. Sie hatten Sperma, Fuseln von der Kleidung, Reste von Klebeband und sogar Fußspuren aber nicht den leisesten Hinweis, zu welcher Person sie gehörten. Die üblichen Verdächtigen hatten Alibis oder die freiwilligen DNA-Tests fielen schlicht Negativ aus.

David starrte aus dem Fenster während der Computer sich wieder hochquälte. Es hatte zu schneien angefangen, aber es war noch zu warm und statt einer Schneedecke sammelte sich nur der Schneematsch in den Straßen.

"Ist der Bericht fertig?" fragte Jens. Er war erst gestern seinem Ermittlerteam zugeteilt worden, ein Grund mehr den aktualisierten Bericht endlich fertig zu bekommen.

"Ist der Computer aus der Steinzeit? Ich sag´ dir Bescheid Jens, sobald ich´s ausgedruckt habe."

"Das kann aber noch dauern, oder?"

"Wenn´s nach dem Computer geht noch bis nächste Woche."

"Solange kann ich nicht warten. Du hast doch gesagt, ich soll die Pressekonferenz vorbereiten. Kannst du mir kurz noch mal den Tathergang schildern."

"Das ist nicht unbedingt etwas für die Zeitung."

"Wir werden die Details raushalten, aber wie es aussieht brauchen wir ein paar Zeugen und wie´s aussieht, kriegen wir die nur, wenn wir um die Mithilfe der Bevölkerung bitten. Natürlich achten wir auf die Privatsphäre der Opfer."

 "Gut. Das zweite Opfer liegt noch im Krankenhaus und konnte noch nicht befragt werden, aber die DNA der Spermaspur stimmt mit denen von Opfer Nummer eins überein, es ist also derselbe Täter." David Korrasch startete schon mal das Schreibprogramm, während er weiter redete.

"Simone Petersen, das erste Opfer, hat ausgesagt, dass sie beim Joggen war, als sie von hinten überfallen wurde und man sie mit einem Schlag betäubte. Dann hat der Täter sie an Händen und Füßen mit Klebeband gefesselt. Passanten haben sie später gefunden und den Krankenwagen gerufen. Sie war unterkühlt und hatte wahrscheinlich ein bis zwei Stunden bewusstlos in der Kälte gelegen. Die Kleidung wurde mit einem scharfen Messer aufgeschnitten - wahrscheinlich ein Teppichmesser. Das zweite Opfer - Karin Lechner - wurde dabei verletzt. Sie hat sich selbst befreit als sie aufgewacht ist und wurde an der Straße von einer Streife aufgelesen. Wir wissen noch nicht genau, wo der Tatort lag, weil sie unter Schock steht und noch nicht befragt werden konnte."

"Und was wissen wir über den Täter. Vielleicht können wir über die Presse ein paar Zeugen finden."

"Die Sanitäter am ersten Tatort haben viele Spuren zertrampelt, aber ein Fußabdruck, der zum Täter gehören könnte, hatte die Schuhgröße 43. Es dürfte sich demnach um einen Mann mittlerer Größe handeln. Ein Fusel, der an der Kleidung des zweiten Opfers gefunden wurde, konnte noch nicht zugeordnet werden, vielleicht gehört er zur Kleidung des Täters."

"Dann haben wir so gut wie nichts."

David nickte. "Ein Mann mittlerer Größe, aber vielleicht hat trotzdem irgendwer etwas Auffälliges bemerkt und ist sich nur noch nicht bewusst, dass es wichtig ist."

"Hoffentlich. Danke."

David tippte den Bericht zu Ende und druckte ihn gleich aus, lieber ein paar Rechtschreibfehler als sich darauf verlassen, dass der Computer das nächste Mal überhaupt noch mal ansprang.

Am Nachmittag folgte noch eine Konferenz mit seinen Kollegen in diesem Fall, aber sie kamen nicht weiter, sie brauchten die Aussage des zweiten Opfers. Ein Anruf im Krakenhaus machte aber wenig Hoffnung - vielleicht in zwei Tagen. Die Schicht ging ohne den geringsten Fortschritt zu Ende und selbst die Pressekonferenz war ernüchternd, die Qualen der Opfer schienen bei weitem mehr Interesse hervorzurufen, als die Suche nach dem Täter. Wenigstens waren die Namen noch geheim. Nicht auszudenken, wenn die Familien auch noch von der Presse terrorisiert werden würden.

Als David endlich Dienstschluss hatte, war er frustriert und wütend, an Tagen wie diesen hasste er diesen Beruf. Er hatte sich nicht entschlossen Polizist zu werden, um im Trüben zu fischen. Er wollte Verbrechen aufklären und nicht nur verwalten. David konnte noch nicht nach Hause gehen.

Nach einem Bier im Pub fuhr er statt dessen zu Celine. Sie hatten eine stillschweigende Vereinbarung, Celine verlangte nicht, dass David seine Frau verließ und er machte sich keine Illusion darüber, dass dieses Verhältnis ewig so weitergehen konnte. Aber so lange Celine da war wusste David, dass er zu ihr gehen konnte, wenn er jemanden brauchte, der keine Ansprüche an ihn stellte. Sie verstanden einander.

"Komm rein", begrüßte die junge Frau den Kommissar. Es war spät und sie hatte schnell einen Bademantel über ihren Pyjama geworfen, um die Tür zu öffnen. "Du siehst schlimm aus."

"Hast du die Nachrichten gesehen?"

"Der Vergewaltiger? Ja, schlimm."

David setzte sich auf die Couch und Celine brachte zwei Gläser und eine Flasche Portwein, bevor sie sich an seine Seite schmiegte. "Willst du darüber reden?"

David schüttelte den Kopf. "Wir haben absolut nichts. Zwei Mädchen wurden brutal überfallen und wir haben nicht den leisesten Schimmer."

Celine streichelte seinen Hinterkopf und Nacken, dann küsste sie ihn und er schmeckte den Port, von dem sie zuvor genippt hatte. David legte seinen Arm um sie und zog sie noch dichter zu sich heran. Ihre warme Nähe tat ihm gut.

"Ich kann heute nicht so lange bleiben, Hellen kommt wahrscheinlich früher nach Hause", sagte David schließlich und Celine nickte.

"Eines Tages werde ich die Nase davon voll haben, dass du dich bei mir ausheulst und dann zu deiner Frau gehst."

"Ich weiß."

Aber David wusste auch, dass Celine ihn wirklich liebte und das sie es, wenigstens im Moment lieber so haben wollte als ihn gar nicht mehr zu sehen. Und David war froh darüber, denn er liebte Hellen aber sie verstand einfach nicht, was er jeden Tag auf der Arbeit durchmachen musste. Ein paar Fälle konnte er lösen, und die Ungelösten verfolgten ihn für den Rest seines Lebens.

Er küsste Celine zum Abschied und fühlte sich schuldig, weil er nicht mehr Zeit mit ihr verbringen konnte.

David war froh das Er vor seiner Frau zu Hause ankam, er hätte ihr nur ungern erzählt, dass ihn wiedereinmal die Arbeit festgehalten hatte. Er machte etwas Abendessen und goss sich schon mal ein Glas Wein ein, selbst wenn er bei Celine kaum etwas getrunken hatte. Er wollte nicht riskieren, dass sie den Portwein roch.

Am nächsten Morgen im Büro starrte David gegen die Pinwand, an der sie die Hinweise und Indizien geheftet hatten, für heute war der Kriminalpsychologe eingeladen, vielleicht konnten ihm die Spuren und der Tathergang mehr erzählen als den Fahndern.

"Sie sind Herr Korrasch?" erkundigte sich der Profiler, als er pünktlich im Revier auftauchte.

"Stimmt, und das ist mein Team. Renate Juliano, Tim Walle und Jens Herrmann."

Nach der kurzen Begrüßung ließ sich Dr. Kanter in den Fall einweisen, nickte hin und wieder und stellte ein paar gezielte Fragen zu den Details, von denen aber die eine oder andere unbeantwortet bleiben musste.

"Der Fall scheint mir nicht sehr ungewöhnlich zu sein, die Muster sind bekannt. Wahrscheinlich ist ihr Mann nicht sehr kräftig oder unsicher, das heißt aber auch, dass er sehr kontrolliert und nicht sehr spontan handelt, die Nachbarn halten ihn vielleicht für nett aber zurückhaltend. Er geht sehr brutal vor, das lässt auf einen tief verwurzelten Frauenhass schließen, aber ich halte es auch für denkbar, dass er sich selbst für seinen Trieb hasst und diese Wut an seinen Opfern auslässt."

David nickte und machte sich ein paar Notizen. "Was ist mit den Spuren, die er hinterlässt?"

"Er ist sorglos. Ich glaube nicht, dass er sich nicht bewusst ist, dass er Spuren hinterlässt, aber es ist ihm gleichgültig. Vielleicht will er sogar erwischt werden. Das hier werden nicht die letzten Fälle gewesen sein."

"Wir haben die Fahrradstreifen in den Parks schon verdreifacht", warf Renate ein.

"Gut, aber das wird sein Aktionsgebiet nur verlagern. Was mir Sorgen macht, ist seine Gewalt, dem zweiten Opfer hat er schwere Schnittwunden zugefügt. Ich fürchte das kann noch eskalieren."

"Wie weit?"

"Bis zum Mord. Noch nicht beim nächsten Opfer, er ist noch nicht so weit, vielleicht auch noch nicht beim Übernächsten aber irgendwann verliert er die Kontrolle und dann wird er sich nicht mehr zurückhalten können."

"Oh Gott," flüsterte Tim.

"Wie finden wir den Kerl?"

"Die Tatorte liegen recht weit auseinander, das ist etwas ungewöhnlich, weil die meisten Vergewaltiger in der näheren Umgebung anfangen, wo sie sich sicher fühlen und ihr Territorium erst nach und nach ausdehnen. Dass Sie ein Auge auf die Parks haben, wo die ersten Verbrechen stattfanden, ist gut, aber sie sollten alle Parks näher beobachten."

"Das sind eine ganze Menge in einer Großstadt."

"Und ein Aufruf zu einem freiwilligen Gentest würde uns auch nicht weiterhelfen, wir können nicht eine halbe Million Menschen zum Test bitten", überlegte Renate laut.

"Ich danke Ihnen erst mal Doktor, wenn wir noch Fragen haben, melden wir uns wieder bei Ihnen," beendete David das Gespräch. Viel hatte es nicht gebracht und so wie die Ermittlungen vorangingen, würde bald das nächste Opfer auftauchen.

"Ich will ins Krankenhaus. Renate, du kommst mit. Wir müssen diese verdammte Aussage bekommen."

"Glaubst du die Ärzte lassen uns zu ihr?"

"Wenn sie nicht bald die dritte Frau behandeln wollen, ja."

David wartete mit einem der behandelnden Ärzte vor der Tür zum Krankenzimmer, ein Polizist saß neben der Tür auf einem Stuhl - mehr für die Angehörigen als für die Sicherheit.

"Was können sie mir über die Verletzungen sagen?"

"Ich bin kein Forensiker, oder wie das heißt," antwortete der Arzt. "Aber es war eine scharfe Klinge, die an Brust und Becken tiefe Schnitte hinterlassen hat. Wir haben sie nähen müssen, aber es werden keine großen Narben zurückbleiben."

David nickte und stellte dann die schwerste Frage. Er musste sie stellen, selbst wenn er schon den Bericht des Gerichtsmediziners gelesen hatte, wollte er auch die Meinung des Arztes hören. "Was ist mit der Penetration?" Es war ein irrationales Bedürfnis.

Der Arzt zögerte einen Augenblick. "Abschürfungen und Blutergüsse, die heilen von selbst. Ich hab´ so was noch nicht gesehen." Aber Davis war froh nicht der Einzige zu sein, den das schockierte.

"Danke. Ich hoffe wir können verhindern, dass Sie das so bald wieder müssen."

Erst als sie wieder im Auto saßen, ließ sich David Renates Bericht geben.

"Sie hat eine Abkürzung durch den Park genommen, um zum Bus zu kommen, war schon spät dran und hat nicht darauf geachtet, was um sie herum los war. Plötzlich war jemand hinter ihr und hat ihr auf den Kopf geschlagen. Das Nächste, woran sie sich erinnert, ist, dass sie frierend und halb nackt im Laub liegt und sich nicht bewegen kann. Irgendwann hat sie sich von den Fesseln befreien können und ist wohl zur Straße gelaufen, aber daran kann Sie sich nicht richtig erinnern. Ein Glück, dass die Streife vorbeigekommen ist."

"Sie hätten eine Stunde vorher im Park sein sollen."

Renate nickte stumm.

Bis zum Dienstschluss bearbeitete David noch zwei andere Fälle, eine Messerstecherei in einer Diskothek und einen versuchten Raubüberfall an einer Tankstelle, das Meiste war Papierkram, der Messerstecher hatte sich selbst gestellt und nach dem Anderen wurde eine Fahndung herausgegeben.

Die Spurensicherung gab ihren Bericht kurz vor Dienstschluss ab und David sprach je eine Nachricht auf die Anrufbeantworter von Celine und Hellen. Dass er heute nicht kommen konnte, bei Celine und bei seiner Frau, dass es vielleicht etwas später werden würde.

"Also, was haben wir?"

Tim blätterte zwischen den Tatortfotos und dem Bericht hin und her, während er antwortete. "Diesmal ist der Tatort nicht von Sanitätern zertrampelt worden, aber die feuchte Witterung und der Untergrund haben kaum Spuren zugelassen. Aber ein roter Schal wurde in der Nähe des Tatorts gefunden, wahrscheinlich gehört der Fusel dazu."

David horchte auf. "Hat der Schal dem Täter gehört?"

Aber Tim schüttelte den Kopf. "Nein, die Eltern meinen, das sei Karins Schal."

"Dann haben wir weder nichts. Was ist mit Zeugen?"

"Ein paar Spinner, wie immer. Drei andere haben wir für Morgen zum Interview gebeten", warf Renate ein.

"Gut. Kommen wir noch mal zu den Tatorten zurück, was sagen die uns über den Täter?"

 "Der Erste ist ein Park, recht beliebt bei den Joggern, aber gegen halb elf wohl schon etwas einsam. Der Zweite war eine Unterführung zur S-Bahn. Ich seh' da keinen Zusammenhang", überlegte Jens.

Im ersten Fall könnte der Täter die Gewohnheiten gekannt haben. Nach Aussage von Freunden joggte Simone regelmäßig, wenn sie abends von der Arbeit kam. Könnte er Karin auf ähnliche Weise ausspioniert haben?"

"Ich glaube nicht, Renate. Für Karin war es eine Ausnahmesituation, der Täter müsste ihr dann schon vorher aufgelauert haben, aber er konnte nicht wissen, dass sie am späten Abend noch mal weg wollte."

"Dann kannte der Täter die Schauplätze, hat sich aber wahllos Opfer ausgesucht."

"Da hast du wahrscheinlich recht, Jens", stimmte David zu. "Was haben die Tatorte gemeinsam?"

Tim ging zum Stadtplan, der an der Pinnwand hing und auf dem zwei Nadeln die Tatorte bezeichnete. "Hier die Haltestelle - etwas unübersichtlich und dunkel. Hier der Park - wenig belebt zu so später Stunde."

Jens kniff die Augen zusammen. "Was ist das, was die Tatorte verbindet?"

"Das ist die S-Bahn-Linie."

"Kann man die Tatorte von der S-Bahn einsehen?"

"Du meinst es könnte noch Zeugen geben?"

"Vielleicht. Aber vielleicht hat auch unser Täter eine Dauerkarte."

"Oh, Gott, du denkst auf dem Weg nach Hause sucht er sich Plätze für die nächste Vergewaltigung?"

David nickte. "Renate, Jens. Ihr werdet euch die Linie und den Fahrplan morgen ansehen."

"Ich glaube, wir sind heute ein Stück vorangekommen. Wir machen dann Schluss für heute und hoffen, dass die Zeugen uns morgen weiterbringen."

Aber sie waren bei weitem nicht so weit, wie er gern gekommen wäre, sie hatten eine neue Idee und das war verdammt Zeit, aber sie waren nicht wirklich näher an ihrem Täter.

David packte seine Akten beiseite und schaute auf die Uhr, er würde sogar noch vor Hellen zu Hause sein. Vielleicht wäre es eine gute Idee beim Chinesen etwas zum Abendessen zu besorgen, aber eigentlich hatte David keinen Hunger.

Statt dessen fuhr er in den Pub und trank noch ein Bier, bevor er sich auf den Weg nach Hause machte. Ein Musiker spielte live Gitarre und sang dazu. Aber heute war das ein wenig zu sentimental für Davids Geschmack.

"Ich dachte du würdest länger bleiben? Ich habe aus der Firma den Anrufbeantworter abgehört", begrüßte Hellen ihren Mann, als sie kurz nach ihm das Haus betrat und David mit der Zeitung in der Küche sitzen sah.

"Ja, ich dachte wir könnten Fortschritte machen, aber es hat sich nicht viel ergeben." David legte die Zeitung beiseite und schaute seiner Frau zu, wie sie ihre Sachen auf der Anrichte ausbreitete.

"Ich war beim Chinesen und habe was zum Abendessen mitgebracht, möchtest du was?"

David grinste und nickte.

"Warum lächelst du?"

"Wir ist gerade eingefallen, warum ich dich liebe."

Drei Tage später waren sie weder mit der S-Bahn noch mit den Zeugen weitergekommen, bestenfalls konnten sie sagen, dass die vermuteten Tatzeiten durchaus zwischen zwei Zügen liegen konnten, die so spät noch etwa alle halbe Stunde fuhren. David wollte Jens gerade zu den Verkehrsbetrieben schicken, um weitere Zeugen per Flugblatt und Aushang zu suchen, welche die S-Bahn zu den fraglichen Zeiten benutzt hatten, als ein Anruf kam.

David legte den Hörer mit zitternden Händen beiseite.

"Wir haben ein weiteres Opfer, es hat sich gestern umgebracht."

"Wieso erfahren wir erst jetzt davon?"

David schaute zu Renate hinauf, die gerade einen Stapel Akten auf seinem Schreibtisch verteilte.

"Es ist ein Mann. Der obduzierende Arzt hat nur deshalb einen Zusammenhang hergestellt, weil er mit einer Krankenschwester befreundet ist, die das zweite Opfer behandelt hat. Es gab ähnliche Schnittwunden und Verletzungen im Bereich des Anus."

"Wie?"

"Eine Überdosis Schlaftabletten, sein Vermieter hat ihn gestern Abend gefunden."

"Ich kann´s nicht fassen. Wie kann man einen Mann vergewaltigen?"

David warf einen Blick auf seine Hand, die noch immer zitterte. "Ich habe die Pathologie gebeten den Bericht sofort zu faxen, er müsste in ein paar Minuten ankommen."

Bis der Obduktionsbericht ausgedruckt war, hatte David sein Team zusammengetrommelt, alle schwiegen, während David den Bericht Blatt für Blatt aus dem Faxgerät zog und in die richtige Reihenfolge brachte.

"Tim, du rufst den Psychologen, er soll alles stehen und liegen lassen und herkommen, wenn er nicht gerade einen Serienkiller verfolgt. Leute, die Presse wird uns den Arsch aufreißen, weil wir diesen Selbstmord nicht verhindern konnten. Ich will das ihr wisst, dass wir nichts falsch gemacht haben. Mit dem, was wir hatten, konnten wir nicht schneller arbeiten, aber der Druck hat sich gerade verdoppelt."

Renate und Jens nickten, während Tim am Telefon redete.

"OK. Also zum Fall. Der junge Mann hieß Thomas Hoffmann, 28, Student. Er ist mit einem Schlag betäubt, mit Klebeband gefesselt und brutal von hinten vergewaltigt worden. Eine Spermaprobe konnten wir diesmal nicht sicherstellen, der Junge hatte hinterher noch Stuhlgang und sich nach der Tat gründlich gewaschen. Schnittwunden deuten darauf hin, dass die Kleidung mit einer scharfen Klinge entfernt wurde. Ich glaube, es dürfte kein Zweifel daran bestehen, dass es derselbe Täter war."

"Wir haben wieder keinen Tatort oder?"

"Nein, Renate. Aber eine Kleinigkeit wissen wir ja schon über den Täter. Wie weit wohnte Thomas von der S-Bahn entfernt?"

Jens warf einen Bericht und steckte eine weitere Nadel in die Karte an der Pinwand. "500 m höchstens."

"Tim und Jens. Ihr fahrt sofort in die Gegend und sucht nach dem Tatort, befragt die Anwohner nach verdächtigen Ereignissen in den vergangenen drei Tagen. Renate und ich reden mit dem Psychologen. Und bringt mir etwas mit, womit ich was anfangen kann."

Dr. Kanter kam knapp eine Stunde später und studierte den Obduktionsbericht aufmerksam.

"Seltsam nicht wahr, dass uns die Vergewaltigung eines Mannes noch stärker trifft als die einer Frau, ist ihnen das schon mal aufgefallen?"

"Das ist mir scheißegal. Sagen Sie mir, wie wir den Kerl endlich kriegen."

Der Doktor nickte. "Sicher. Ich habe schon gesagt, dass es sich hier nicht um Lust, sondern um Rache handelt, bisher bin ich davon ausgegangen sie würde sich gegen Frauen richten, was in einem kranken Geist viele Ursachen haben kann."

"Kommen Sie auf den Punkt."

"Er macht keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen, ich verbinde damit einen tief verwurzelten Hass auf beide Elternteile, an denen er sich symbolisch rächt."

"Das heißt ..."

"Ich glaube unser Täter wurde als Kind von beiden Eltern sexuell missbraucht."

"Warum hat er dann nicht einfach seine Eltern umgelegt?" warf Renate ein.

Dr. Kanter ignorierte sie. "Das Handlungsschema deutet auf einen sehr kontrollierten Menschen hin, er lauert einem geeigneten Opfer auf, überfällt es von hinten und fesselt es. Es muss einen Auslöser gegeben haben oder besser eine Hemmung muss vor der ersten Vergewaltigung weggefallen sein, welche die Eskalation, die wir beobachten, erst möglich gemacht hat.

"Was kann das sein?"

"Das einfachste wäre der Tod seiner Eltern. Sie haben ihn sein Leben lang unterdrückt, sein Hass konnte sich aber nicht äußern, solange sie am Leben waren."

"Aber wir können nicht einfach die Todesanzeigen von vor zwei Wochen durchgehen. Das ist nicht genug. Was haben wir noch?"

"Sie haben doch gesagt, dass unser Täter als Kind missbraucht wurde, vielleicht ist das ein Ansatzpunkt, wir sollten entsprechende Anzeigen und Prozesse der letzten Jahre durchgehen."

"Hervorragend Renate, setz dich ran. Vergleich die Daten der letzten 40 Jahre mit aktuellen Todesmeldungen."

"Bin schon weg."

Renate lief aus dem Büro und David lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Vielen Dank, ich hoffe, das hilft uns. Wenn nicht, dann weiß ich nämlich auch nicht mehr weiter."

"Das hoffe ich auch, rufen Sie mich an."

Am Liebsten hätte David sich mit Renate über die Archive hergemacht oder den Tatort gesucht aber er hatte Papierkram zu erledigen und auch andere Fälle wollten seine Aufmerksamkeit.

Bei Dienstschluss überlegte David ernsthaft das ganze Team ins Archiv zu schicken und die alten Akten zu durchwühlen, die noch nicht digital erfasst waren. Aber die Überstunden konnte er auf Grund einer vagen Idee nicht rechtfertigen und seine Leute konnten die Pause gebrauchen. Ganz zu schweigen davon, dass David sich nach diesem Tag besonders nach den Streicheleinheiten Celines sehnte.

"Ein Mann? Das ist grauenvoll", antwortete Celine, als sie zusammen auf der Couch saßen.

"Das hat der Psychologe auch gesagt."

"Dass das grauenvoll ist?"

"Nein, dass uns die Vergewaltigung eines Mannes stärker trifft als die einer Frau."

Celine zögerte einen Augenblick. "Vielleicht, weil es seltener vorkommt?"

"Es wird auf jeden Fall seltener angezeigt. Aber ich glaube es steckt noch etwas anders dahinter."

"Ja. Das starke Geschlecht. Eine Frau ist schwach, ihr passieren schreckliche Dinge und sie muss damit klarkommen, weil man es von ihr erwartet. Aber ein Mann doch nicht, wie könnte ihm so etwas Schreckliches passieren, das darf nicht sein."

"Ich glaube, deshalb hat er sich umgebracht."

Als David zu Hause mit seiner Frau zu Abend aß, erwähnte er die Ereignisse des Tages kaum, sondern lenkte sich damit ab, seine Frau von ihrem Tag im Geschäft berichten zu lassen. Er schlief sehr unruhig diese Nacht.

Bei Schichtbeginn ließ David Renate und Jens die Akten durchstöbern, während er mit Tim weiter nach dem Tatort suchte, leider hatten die Angehörigen und Freunde des dritten Opfers keine Hinweise liefern können, die einen Anhaltspunkt geliefert hätten.

"Mir reicht es. Wir nehmen jetzt die verdammte S-Bahn und fahren die Strecke ab", entschied David, nachdem sie drei Stunden die Wohngegend kreuz und quer durchkämmt hatten, während er Renate und Jens schon mit seinen Kontrollanrufen auf die Nerven ging.

Die Fahrt mit der S-Bahn war wie eine Offenbarung, sie führen die Strecke zwischen den Tatorten bestimmt sieben mal hin und her, jeden Tatort begutachteten sie immer wieder im Vorbeifahren. Beim ersten Blick waren sie nicht so auffällig aber das geschulte Auge entdeckte bei jeder Vorbeifahrt immer mehr Details. Irgendwann hatten beide den Eindruck mit den Augen des Täters zu schauen. Plötzlich platzte Tim heraus: "Das muss er sein!"

"Wo?"

"Schnell raus."

Sie sprangen gerade noch aus der Tür und zogen sich die verärgerten Blick der anderen Fahrgäste zu, als der Zug schon fast wieder weiterfahren wollte.

"Was hast du gesehen?"

Tim zeigte in eine Richtung, aber David sah nichts. "Man kann es nur sehen, wenn man in der Bahn steht, sie ist etwas höher."

Ein paar Minuten später standen sie in einem dunklen Hinterhof einiger Garagen.

"Ich will ja nicht sagen, dass das nicht ein guter Ort ist, aber was sollte ein Student hier zu suchen haben."

"Noch zwei Schritte, dann siehst du es."

Was sie sahen, war ein Bordell und das Interview mit dem Eigentümer brachte tatsächlich zutage, dass Thomas Hoffmann zwar kein häufiger aber immerhin ein bekannter Kunde war.

"Aber die beiden Frauen hatten nichts mit dem Bordell zu tun", stellte Tim schließlich fest, als sie zwischen den Garagen nach verdächtigen Spuren Ausschau hielten.

"Nein, da ist kein Zusammenhang."

Sie brauchten nur eine halbe Stunde, bis sie hinter einer Hecke aufgewühlte Erde und Kleiderreste fanden. Sie hatten ihren Tatort. David kniete sich nieder, um besser sehen zu können.

"Sieht das für dich wie ein abgebrochenes Teppichmesser aus?"

Tim nickte. "Wenn wir den Rest der Klinge finden, haben wir unsere Verbindung zu den ersten beiden Fällen."

Währenddessen war Davis schon ein paar Schritte zurückgegangen, um zu telefonieren. Die Spurensicherung würde den Rest übernehmen. Er wollte sein Mobiltelefon gerade wieder wegstecken, als es zu klingeln anfing.

"Wir haben den Bastard", meldete sich Renate, kaum dass er seinen Namen genannt hatte. "Der Psychologe hat einen Volltreffer gelandet. Ein Paar ist vor 29 Jahren wegen Kindesmissbrauch und Prostitution zu langer Haft verurteilt worden, der Junge kam in ein Heim. Ist mindestens acht Jahre regelmäßig von Eltern und auch Fremden missbraucht und vergewaltigt worden. Die Eltern sind vor drei Wochen bei einem Autounfall ums Leben gekommen."

"Gut gemacht. Und wir haben den letzten Tatort. Sobald die Spuren gesichert sind, besorgen wir einen Durchsuchungsbefehl und einen Gerichtsbeschluss für den DNA-Test."